Kontrapunkt: „Pace, pace“ – ein Plädoyer gegen Rufschädigungen

In Ergänzung meiner Besprechung zu Verdis „La forza del destino“ in Paris noch eine persönliche Bemerkung zum Fest der Versöhnung, Weihnachten: Ich rezensiere seit 1988 die Aufführungen an der Pariser Oper und habe seitdem alle wichtigen Pressekonferenzen verfolgt. In diesem Jahr 2022 passierte es zum allerersten Mal, dass ein Intendant auf einer Konferenz das Engagement einer Sängerin rechtfertigen musste und dazu noch aus Gründen, die nichts mit ihrer künstlerischen Leistung zu tun haben. Wegen des Engagements von Anna Netrebko als Leonora gab es am Tag danach prompt hämische Artikel, u. a. in der New York Times – das habe ich in 34 Jahren in Paris noch nie erlebt! Am Tag, an dem ich diese Rezension schreibe, steht im Magazin des Bayerischen Rundfunks ein hämischer Artikel über das Jahr 2022 der Anna Netrebko: „Ist das das Ende einer großen Karriere?“. Könnte man bitte zweimal nachdenken, bevor man mit Tomaten wirft? Denn was diese Rufschädigungen alles für Konsequenzen für einen Künstler haben können, darüber wird offensichtlich recht wenig nachgedacht. So gab es dieses Jahr in Paris eine viel kommentierte MeToo-Affaire mit furchtbaren Konsequenzen: Eine Sängerin an der Opéra Comique klagte einen Kollegen an, dass er sie auf der Bühne sexuell belästigt hätte (in einer Oper, in der es eine Art Vergewaltigungsszene gab). Alle Medien berichteten darüber, und viele Menschen warfen mit Tomaten, obwohl sie offensichtlich keinen blassen Schimmer hatten, wie man eine Oper probt und inszeniert. Resultat: Innerhalb von nur wenigen Wochen wurden diesem Sänger alle Verträge gekündigt (bis 2024 an der Oper in Amsterdam). Denn „so ein Schwein“ will niemand mehr engagieren… Im Oktober wurde er nun vor Gericht freigesprochen. Der Richter hatte sich alle Proben und alle Vorstellungen genau auf Band angesehen und kam zum Schluss: Es liege nichts gegen ihn vor – was auch der Regisseur, das Theater und die Sänger-Kollegen der Produktion belegten. Doch darüber berichtete niemand mehr, und von den Tomatenwerfern hat sich danach niemand öffentlich entschuldigt. Resultat: Der Sänger hat inzwischen seinen Beruf an den Nagel hängen müssen und ist nun ein Krankenpfleger in einem Provinzkrankenhaus weit weg von Paris. Er ist offenkundig genauso unschuldig wie Alvaro und Leonora. In diesem Sinne: Könnten wir nicht bitte zum Jahreswechsel mit dieser neuen Unart in der Klassik-Szene aufhören? Es geht uns doch um die Musik! Auch darum bittet Verdis Leonora in „Pace, pace“.

Waldemar Kamer, 23. Dezember 2022