Lübeck: „Albert Herring“, Benjamin Britten

Mit „Albert Herring“ beschließt das Theater Lübeck seine Britten-Trilogie nach „Owen Wingrave“ und „The Turn oft the Screw“, allesamt inszeniert von Stephen Lawless, der im Januar auch Mozarts „Figaro“ auf die Bühne der Hansestadt brachte.

Benjamin Britten zielt in der 1947 uraufgeführten Satire auf die bigotte Doppelmoral britischer Kleinbürger, indem er eine humorvoll überzeichnete Geschichte vom vermeintlichen Lob der Tugend und dem Ausbruch aus den spießigen Moralvorstellungen im viktorianischen England erzählt. Diese Geschichte beginnt mit der Kür der Maikönigin in der fiktiven Ortschaft Loxford; allerdings besteht keines der Mädchen aus der Kleinstadt vor den gestrengen Augen der selbsternannten Sittenrichterin Lady Billows und so einigt man sich auf das naive Muttersöhnchen Albert Herring, weil der Junge „aus gutem Holz“ sei. Während seiner der „Krönung“ wird er jedoch Opfer eines Spaßes von Nancy und Sid, eines Liebespaars aus der Unterschicht; die beiden schütten ihm heimlich Rum in die Limonade, was ihn auf einen Schlag all seiner Hemmungen beraubt. Albert kostet endlich das, was allgemein als „Sünde“ bezeichnet wird.

Lawless läßt die Handlung in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts spielen und die konnten es in Sachen Moral locker mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufnehmen – in Großbritannien wie im sonstigen Europa. Noch weit entfernt von der sexuellen Befreiung, die mit der Studentenbewegung von 1968 teils mit Knalleffekten, teils sehr zögerlich zu einer Lockerung von Moralvorstellungen und Gesetzen führte, hatten es die besonders schwer, die nicht der allgemeinen Norm entsprachen.

© TL/Olaf Malzahn

Die heutige Selbstverständlichkeit von Homosexualität ist allerdings eine sehr junge Erscheinung; in der Bundesrepublik wurde der berüchtigte Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, erst 1994 abgeschafft, wenngleich homosexuelle Handlungen ab den späten 50er Jahren nicht mehr strafrechtlich verfolgt wurden. Auch Sexualität vor der Ehe und überhaupt ein offener Umgang mit der gesamten Thematik im heterosexuellen Bereich ist erst seit wenigen Jahrzehnten bei uns kein Tabu mehr. Noch in den prüden frühen 60er Jahren „mußte“ man heiraten, wenn ein Kind unterwegs war; da war die soziale Kontrolle noch ausgesprochen streng. „Prüde“ wird in Pierers Universallexikon von 1861 als „auf eine übertriebene und affektierte Weise sittsam, scheinspröde, zimperlich“ zu sein definiert. Das trifft vollkommen auf Lady Billows zu, die in der Lübecker Inszenierung diskret ihrer Doppelmoral überführt wird. Auch das Thema der unterdrückten Homosexualität wird hier in einer Offenheit thematisiert, die zur Zeit der Uraufführung noch undenkbar war.

Bei der Premiere am 10. März konnte sich das Publikum nicht nur über die als Karikaturen skizzierten Bewohner des Städtchens amüsieren, sondern wurde auch durch geschickt eingesetztes Zeitkolorit in die Nachkriegszeit entführt.

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Kurze Filmsequenzen zeigen eine solche Maiköniginnen-Feier oder preisen einen Teekocher an, die Bühne von Ashley Martin-Davis, der auch die Kostüme entworfen hat, rahmt eine Collage aus Zeitungsausschnitten mit der jungen Queen Elizabeth und Schlagzeilen, die Lebensmittelmarken oder die Wiederwahl Winston Churchills zum Thema haben. Dabei ist der Name der Lady Billows in einem Artikel über ihren Kreuzzug gegen den Sittenverfall aus dem örtlichen Anzeiger verdächtig nahe an das Photo der Königin gerückt.

Auch Lady Billows Kostüm erinnert in dem rustikalen Landhaus-Stil an das der Queen, wenn sie in der Natur unterwegs war. Glänzend gibt Bea Robein die resolute Herrin, die mit ihrer Reitpeitsche für Zucht und Ordnung sorgt. Es ist schwer, stundenlang so schrill und zickig zu singen, nicht aber für diese ungemein präsente Sopranistin. Während der Diskussion zur Wahl entsteht einen Moment lang eine auffällige Nähe zu ihrer Haushälterin Florence Pike, die aber gleich wieder verdrängt wird – offenbar gibt es hier etwas zu verbergen. Miss Pike ist die Altistin Julia Grote, in Spiel und Gesang weit mehr als nur ein Schatten ihrer Herrin.

Dem honorigen Personal des Städtchens steht Mr. Upfold vor; Tenor Wolfgang Schwaninger ist die wunderbare Karikatur eines Bürgermeisters, der nie weiß, wann es genug der pathetischen Rede ist. Polizeichef Mr. Budd wird vom Bass Mario Klein überzeugend dargestellt; man kann nicht wirklich Angst vor ihm haben. Steffen Kubach brilliert ein weiteres Mal in einer komödiantischen Paraderolle als Pastor Gedge – Kenner des Baritons wissen, daß er auch im ernsten Fach grandios ist. Für die Kindererziehung und das Einüben im wohlklingenden Gesang ist Miss Wordsworth verantwortlich – Britten hat ihr nicht umsonst diesen Namen gegeben, den neben dem berühmten Dichter auch eine Pädagogin und eine Poetin trugen. Andrea Stadel verkörpert großartig diese liebenswerte aber hoffnungslos spießige Dorfschullehrerin. Die unbotmäßigen und ständig zu Streichen aufgelegten Kinder werden mit wundervoller Leichtigkeit von Natalyia Bogdanova, Valentina Rieks und Jasper Florens Bartsch gegeben.

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Underdogs dieser sich selbst beäugenden Gemeinschaft sind das Liebespaar Nancy Waters und der Metzgerbursche Sid; letzterer ist Bariton Jacob Scharfman, der mit dieser Rolle erneut seine große Wandlungsfähigkeit gekonnt unter Beweis stellt. Als Nancy überzeugt ebenfalls die Mezzosopranistin Laila Salome Fischer stimmlich und spielerisch in den spaßigen wie den ernsten Szenen –es macht wirklich Freude, den beiden zuzusehen, wie sie sich nicht das Lachen über den Bürgermeister und den Polizeichef verkneifen können. Als Mama Herring ist Edna Prochnik zu erleben – sie spielt brillant die etwas schlampige dominante Mutter, der viel daran gelegen ist, was die Leute sagen. Mit eigentlich sehr schöner Stimme nervtötend zu singen gelingt ihr mühelos. Und dann ist da der tragikomische Titelheld, Musterknabe und Spätzünder Albert. Für die anspruchsvolle Rolle wurde Frederick Jones gewonnen, der die Spannweite vom verängstigten Milchbubi hin zum Grenzüberschreiter fabelhaft ausfüllt, und zwar spielerisch wie auch von seinem klaren, höhensicheren Tenor her. Seine Mimik erlaubt tiefe Blicke in die Seele dieses unsicheren Buben, der irgendwann genug von der kontrollierten Enge hat. Britten läßt offen, was er mit wem in jener verhängnisvollen Nacht getrieben hat, als er einen Teil des Preisgeldes auf den Kopf haute, aber bei Lawless ist es ein junger Matrose, der dem behüteten Jungen die Unschuld geraubt hat. Das hätte dem Komponisten sicher gefallen.

Dies gilt auch für die musikalische Umsetzung der komplizierten Partitur mit ihren kniffligen Fugato-Passagen in den Ensembleszenen, was alle Beteiligten bewundernswert umsetzen. Die Text-Musik-Kongruenz ist in dieser Oper unglaublich dicht und stimmig; das Orchester setzt klanglich um, was textlich thematisiert wird. Takahiro Nagasaki leitet bravourös 13 Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck, die hier wie eine große Besetzung klingen, er behält die ganze Zeit ein für eine Komödie angemessenes Tempo bei. In der Szene, als die Gemeinde den verschwundenen Albert für tot hält, gibt es Längen, die aber musikalisch aufgefangen werden. Die fein abgestimmte Instrumentierung meistern die Mitwirkenden sensibel und zugleich stark; Harfe, Flöte, Horn und vereinzeltes Schlagwerk setzen entsprechende Akzente. Die Musik steckt voller Zitate; man hört Wagners „Lohengrin“ oder „Tristan anklingen wie auch Weill´sche Unterhaltungsmusik. Archaische Trommelklänge lassen ahnen, daß es unter der kleinbürgerlichen Oberfläche zu brodeln beginnt.

Nach seinem Ausflug in die Abgründe einer unheimlichen aber faszinierenden Sinnlichkeit hat sich Albert verändert. Er trägt nicht mehr die kurzen Kinderhosen, den peinlichen Maikranz und die albernen grünen Bänder an den Socken, sondern er ist in Kleidung und Haltung zum Mann geworden. „Schön war es nicht“, beschreibt er seinen individuellen Initiationsritus, aber der hat ihm geholfen, größer zu werden. Künftig wird er sich nichts mehr sagen lassen.

Es ist bemerkenswert, daß sich das Theater Lübeck bereits 1990 und 2006 dieser selten aufgeführten Oper gewidmet hat. Die aktuelle, bei der Premiere zu Recht umjubelte Produktion, bei der viel gelacht werden durfte, ist in jedem Falle auch für Auswärtige unbedingt einen Besuch wert.

Andreas Ströbl, 12. März 2023


Albert Herring

Benjamin Britten

Theater Lübeck

Besuchte Premiere 10. März 2023

Musikalische Leitung: Takahiro Nagasaki

Inszenierung: Stephen Lawless

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Nächste Vorstellungen: 16. und 23. März sowie am 29. April