15. Mai 2022 Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Riccardo Chailly bei den Dresdner Musikfestspielen
Der Sohn des italienischen Komponisten Luciano Chailly (1920-2002) Riccardo ist in Sachsen ob seiner mehrjährigen Tätigkeit als Kapellmeister des Leipziger Gewandhaus-Orchesters kein Unbekannter.
Zu den Dresdner Musikfestspielen 2022 war er am 15. Mai 2022 mit „seiner“ „Filarmonica della Scala“, dem symphonischen Zweig des berühmten Mailänder Opernhauses, in den Kulturpalast der Landeshauptstadt gekommen.
Für eine Interpretation des „Violinkonzertes e-Moll op. 64“ von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) hatte er den in Taiwan geborenen und in Australien aufgewachsenen Solisten Ray Chen mitgebracht.
Das Konzert, 1844 in Bad Soden in entspannter Umgebung entstanden und 1845 in Leipzig uraufgeführt, gehört zu den beliebtesten und meistgespielten Werken der Geigenliteratur.
Den ersten Satz spielte Chen mit der Stradivari „Samazeuilh“ aus dem Jahre 1735 beherzt, technisch lupenrein und mit einer wundervollen Kadenz. Den zweiten Satz, mit zartem, fast überirdischem Ton, ließ er insbesondere in den lyrischen Passagen ruhig angehen, ohne die Spannung zu verlieren.
Den Finalsatz gestaltete Chen folgerichtig mit einem intensiven Pathos, mit geräuschhaften Bogenstrichen und energischen Gesten, während Riccardo Chailly im Hintergrund mit perfekter Balance die melodische Begleitung sicherte.
Den Kopfsatz der „ersten Symphonie D-Dur“ von Gustav Mahler (1860-1911) ging Riccardo Chailly im zweiten Konzertteil zunächst gemächlich an. Unterstützt von phantastischen Solo-Bläsern gestaltete er fast aus dem Nichts eine zarte Schilderung des Erwachens der Natur, bevor Volkslied-Intonation und gelöstere Stimmungen das Klangbild intensivierten. Nach der von Mahler ausdrücklich gewünschten Satzpause führte Chailly das Orchester mit der erreichten Intension das Scherzo wie auf einem Plateau, um sich im „Feierlich-Bewegtem“ auf seine Kompetenz zu konzentrieren. Wie eine Oper inszenierte er lang aushaltend Gefühle des Kampfes, entwickelte berauschende Höhepunkte. Trotz aller Spannung und Aufregung gelingt es dem Italiener sein hervorragend eingestelltes Orchester zu einem scheinbar endgültigen Triumph zu führen.
Damit hatte sich Chally aber die Möglichkeit genommen, mit dem Finalsatz den Ausdruck einer verzweifelten Situation zu entwickeln, so dass er fast zwangsläufig eine rasante Schlussentwicklung bieten musste und dank der Qualität des Orchesters auch bieten konnte.
Die Besucher des ohne Leerplätze besetzten Kulturpalastes reagierten auf die Mahler-Interpretation der „Filarmonica della Scala“ mit frenetischem Beifall. Auch hätte ich mir als „Halb-Leipziger“ nie vorstellen können, einem Chailly-Konzert mit stehenden Ovationen zu danken.
Thomas Thielemann, 17.5.22
© Oliver Killig