Kürzlich kam Händels „Rinaldo“ in Dortmund zur Aufführung, wo Regisseur Jens Daniel Herzog Intendant ist. Zuvor war seine Inszenierung in Zürich und Bonn zu sehen gewesen. Jetzt hatte Gounods „Faust“ am Essener Aalto Musiktheater in der Regie von PHILIPP STÖLZL Premiere, ein gutes halbes Jahr nach Berlin (Deutsche Oper). Diese Koproduktion ist als solche im Programmheft ausgewiesen; sie soll einer Rezension zufolge aber bereits 2008 in Basel herausgekommen sein. Wie bei „Rinaldo“ gilt: die Aufführungsorte liegen weit auseinander, so können Transfers dieser Art eigentlich nur Lokalstolz verletzen. Im übrigen scheint Stölzl Details seiner Arbeit für Essen leicht geändert zu haben, wenn dem oben erwähnten Bericht zu glauben ist.
Für Gounods populäre Oper hat sich der Titel „Faust“ durchgesetzt. Die zeitweilige Namensgebung „Margarete“ hatte unterstreichen wollen, dass sich das Werk etwas sentimentalisierend von dem Goethe-Drama absetzt. Bei Stölzl könnte man diese Maßnahme fast schon wieder rückgängig machen, denn der Regisseur ist erklärtermaßen besonders stark am Schicksal „Gretchens“ interessiert, welches für ihn die „emotionale Wirbelsäule“ der Oper darstellt.
Deswegen wurde die Befindlichkeit der Titelfigur aber nicht an die Seite gerückt. Das Leiden Marguerites rührt ja u.a. von Fausts männerypischen Sexualbegehren her, welches vor dem fortschreitenden Lebensalter nun einmal nicht halt macht. Im Programmheft sind nicht von ungefähr das Hesse-Gedicht „Der Mann von fünfzig Jahren“ und eine Passage aus dem „Tod in Venedig“ angedruckt, wobei das Mann-Zitat auf den Verlust der „süßen Jugend“ hinausläuft. Diese will auch Faust für sich zurückgewinnen, nachdem ihn fröhliche Stimmen aus der Ferne vor einem Suizid im elektrischen Rollstuhl zurückhielten. Hilfe kommt allerdings nicht von dem üblicherweise diabolischen Méphistophélès, wie er auf der heutigen Bühne kaum noch anzubieten wäre. Stölzl wählt das zwar nicht neue, aber immer noch probate Prinzip personaler Janusköpfigkeit, betont die zwei Seelen (ach) in eines Menschen Brust, unterstrichen von identischen Glitzerkostümen URSULA KUDRNAs. Diese Lösung sollte psychologisch allerdings nicht allzu akribisch unter die Lupe genommen werden.
Die Grenzen zwischen naturbedingter Triebhaftigkeit und anerzogenem Anstand sind ohnehin nicht eindeutig zu ziehen. Einen gewissen Sympathiebonus gibt der Regisseur Faust zunächst einmal mit. Während des Vorspiels zieht der zum Greis gewordene Mann die tote, auf ein fahrbares Bett geschnallte Margarete hinter sich her, verzweifelt ob der von ihm erkannten Schuld. Der Tod der Kindsmörderin erfolgte im übrigen nicht durch den Strang, sondern durch eine Giftspritze (eine explizite Kritik an der Todesstrafe scheint indes nicht beabsichtigt). Die paradiesischen Finalklänge erlebt die Delinquentin in einem letzten Aufbäumen. Auch die Kirchenszene kommt ohne religiöse Anklänge aus. Margarete ruft den Himmel an der Leiche ihres Bruders Valentin an, der sie verfluchte, sich dann aber sterbend doch an ihre Beine klammert. Da drückt es einen schon mächtig in der Kehle. Alles geschieht in einem Schneegestöber (warum?), welcher nach der Pause beginnt und bis zum Schluss anhält.
Das weiße Flirren macht sich sehr dekorativ, wie auch die Bühnenausstattung des Regisseurs ein prinzipiell beeindruckendes Bild abgibt: innerhalb der die Szene umgebenden Randmauern erhebt sich zentral ein turmartiger Bau, welcher etwas Erdrückendes an sich hat. Es ist freilich zu mutmaßen, dass der Regisseur diese Bildidee realisierte, weil er auf der Drehbühne immer wieder lebende Bilder hereinfahren lässt, die hinter dem „Turm“ ausgetauscht oder variiert werden.
Die Lösung wirkt nicht unbedingt zwingend, läuft sich im Verlaufe der Aufführung auch etwas tot. Immerhin entbindet es Philipp Stölzl von der Notwendigkeit, den Chor führen zu müssen. Dieser trägt kindlich puppenhafte Gesichtsmasken, eine kritisch gemeinte Anonymisierung, wofür Stölzl durch das „Fischvolk“ aus einem Brecht-Gedicht inspiriert wurde. Statisten bringen (ungeachtet etlicher tableaux vivants auch bei ihnen) etwas Masselebendigkeit ins Geschehen ein, wobei die Messerangriffe einer geilen Mädchenschar auf Valentin (vor dem eigentlichen Duell mit Faust) eine Zuspitzung bedeuten.
Optisch besonders markant werden die Juwelenarie und die Walpurgisnacht bebildert. Ob die herein fahrenden Tannenbäume so etwas wie Weihnachtsstimmung hervorrufen sollen? Auf zwei von ihnen beginnen sogar elektrische Kerzen zu flackern, wenn Marguerites Freude über die Geschenke (ein ganzes Arsenal an Kartons) ihrem Höhepunkt entgegen treibt. Wirklich stimmig gerät die Szene auf dem Brocken: Marguerites Traum von einer Glanz-und-Gloria-Hochzeit mit Faust.
Hier ertönt aus der Ballettmusik nur die erste Nummer, wie auch sonst verschiedentlich in die Partitur eingegriffen wird. So ist Mephistos „Le veau d’or“ kurz vor sein Ständchen platziert. Zu Beginn gibt es einige Auslassungen, um die Einführung der weiblichen Hauptfigur nicht zu sehr hinaus zu zögern. Zu solchen Maßnahmen, die als legitim gelten können, äußerst sich Stölzl, der die Oper ansonsten in jeder Hinsicht „toll“ findet, ausführlich in einem Interview im Programmheft. Seine Entscheidungen wurden vom Essener Premierenpublikum nota bene ebenso widerspruchslos angenommen wie die szenischen Eigenwilligkeiten, über die in Berlin nicht nur bei den Zuschauern, sondern auch in den Feuilletons heftig gestritten wurde.
SÉBASTIEN ROULAND lässt spüren, dass er Gounods schöne und sensualistische Musik liebt. Bereits das Vorspiel klingt wie in Samt und Seide gehüllt. Später arbeitet der Dirigent die vielen koloristischen Details einfühlsam heraus, gibt andererseits auch dem Klangpathos des Werkes Raum. Der Aalto-Chor und die ESSENER PHILHARMONIKER leisten Außerordentliches.
Auch bei den Sängern viel Licht, wenn auch nicht durchgehend. So muss sich MARTIJN CORNET die Valentin-Arie noch etwas erobern, zumal sein Bariton von Natur aus nicht über ein Schmeichel-Timbre verfügt. Auch beim Faust des Marokkaners ABDELLAH LASRI könnte noch einige Geschmeidigkeit hinzu kommen; aber die Partie liegt ihm sicher in der Kehle, die Spitzentöne flammen. Und er ist ein guter Darsteller. JESSICA MUIRHEAD, als Marguerite in den bieder wirkenden Kostümen nicht gerade eine Inkarnation von mädchenhafter Weiblichkeit, wie von Faust erträumt, singt ihre Partie (mit der sie schon in Dresden auftrat) ausgeglichen, innig und strahlend. Eine fast noch rundere Stimme führt KARIN STROBOS ins Treffen, als Siebel in ein Häschen-Fell gesteckt und Waren aus einem Bauchladen anbietend. Stölzl inszeniert dem unglücklich Liebenden eine zu Herzen gehende Verzweiflung an, wenn ihn Marguerite trotz aller Freundschaftsbekundung alleine zurück lässt. ALMUTH HERBST ist eine köstlich nuttige Marthe.
Und dann das Ereignis ALEXANDER VINOGRADOV. Der Moskauer (40) verfügt über einen raumgreifenden Bass, der noch fülliger wirkt, wenn er aus dem Zuschauerraum (Kirchenszene) ertönt. Sein Méphistophélès klingt so kantabel wie der von Nicolai Ghiaurov, ist aber versetzt mit einer leichten Sprödigkeit, wie sie Boris Christoff eigen war. Eine faszinierende Mixtur. Der Jubel des Publikums verwunderte nicht.
Christoph Zimmermann 1.1.16
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