5. Mai 2022 (Premiere)
Loriot-Ring – Impuls für die Grazer Wagnerpflege
‚Die Grazer Philharmoniker dokumentierten ihre hohe Qualifikation auch für den „Ring“, der hier vor vielen Jahren in der Regie von Christian Pöppelreiter einmal recht gut lief. Man sollte mal an einen neuen denken!‘ Das schreibt der ausgewiesene Wagner-Kenner Klaus Billand in seiner sofort nach der Premiere veröffentlichten Kurzkritik. Diese Anregung greife ich sehr gerne gleichsam als Leitmotiv für meine eigene Auseinandersetzung mit der aktuellen Produktion auf. Für historisch Interessierte gibt es am Ende in einem PS einen Exkurs zur Grazer Ring-Tradition der letzten 60 Jahre.
Wikipedia fasst in gewohnter Prägnanz zusammen, wie es zur Loriot-Fassung des Wagnerschen Rings kam:
Loriot äußerte die Idee für den Ring an einem Abend bereits Anfang der 1980er Jahre in einem Gespräch mit dem Dramaturgen und Intendanten Klaus Schultz. Nachdem Schultz 1992 die Intendanz am Nationaltheater Mannheim übernommen hatte, erinnerte er sich wieder an Loriots Idee. Das Theater plante eine Inszenierung des gesamten Ring-Zyklus. Da zu der Zeit das Theater saniert wurde, war nur eine konzertante Aufführung möglich. Schultz hielt das für eine gute Gelegenheit, die Idee von Loriot zu verwirklichen. Nachdem entschieden worden war, welche Teile der Opern aufgenommen werden sollten, schrieb Loriot innerhalb von sechs Monaten seine Zusammenfassungstexte. Die Fassung entstand also in einer Notsituation und so verwundert es nicht, dass gerade in Corona-Zeiten zuletzt vermehrt auf diese Version zurückgegriffen wurde – siehe als Beispiel die Medieninformation der Oper Leipzig aus dem Vorjahr. Diese Notsituation bestand in Graz zwar nicht, aber offenbar wollte Intendantin Nora Schmid dem Grazer Publikum mit der Loriot- Fassung wenigstens einen kleinen Ersatz für die lange entbehrte Ring-Tetralogie bieten – die letzte Aufführung liegt schon mehr als 20 Jahre zurück! Und die Oper Graz bewies, dass sie nicht nur die Wagner-erprobten Grazer Philhamoniker als Orchester aufbieten kann, sondern auch ein beachtliches Solistenensemble mit klug gewählten Gästen.
Bereits die eröffnende Rheintöchter-Szene verhieß stimmlich Erfreuliches: Die Ensemblemitglieder Tetjana Miyus, Corina Koller und Anna Brull sangen klangschön, absolut sicher und vor allem ideal ausgewogen und aufeinander abgestimmt ihren Part. Dazu kamen als respektable Besetzung der gerade in Graz als Holländer gastierende Kyle Albertson als Wotan mit sicherem Heldenbariton und aus dem Hausensemble der markant artikulierende Charakterbariton des Marcus Butter als Alberich sowie der sich immer mehr profilierende Mario Lerchenberger als Loge. Mareike Jankowski war eine attraktiv-solide Fricka. Sie alle kann man sich sehr gut in einer szenischen Rheingold-Aufführung vorstellen, ja wünschen!
In den Ausschnitten aus der Walküre lernte man nun drei für Graz neue Sängerpersönlichkeiten kennen. Die Sieglinde sang die vom Mezzo zum Sopran gewandelte Betsy Horne . Ich hatte sie schon 2013 in Klagenfurt bei ihrem Debüt als Feldmarschallin erlebt und damals geschrieben: eine warme, aus der Mezzolage überzeugend in das lyrische Sopranfach gewachsene farbenreiche Stimme. Ihre Stimme hat sich in diesem Sinne erfreulich weiterentwickelt und sie ist nun eine ideale jugendlich-dramatische Sieglinde. Die Brünnhilde war die ebenfalls vom Mezzo zum Sopran gewechselte Alexandra Petersamer, wahrlich eine eindrucksvolle hochdramatische Stimme mit Gestaltungskraft in bester Heroinentradition.
Der Siegmund, später auch der Siegfried, des Abends war Daniel Kirch, ein bereits vielfach Wagner-erprobter Tenor, der heuer in Bayreuth als Loge debutieren wird. Der Siegmund ist ihm diesmal nicht so recht gelungen. Da wirkte an diesem Abend so manches technisch forciert. Daduch gab es merkliche Intonationstrübungen sowohl im Piano als auch im Forte. Auch wirkte er recht kurzatmig und konnte mit seinem an sich eindrucksvollen Material die großen Bögen nicht immer gebührend spannen. Betsy Horne und Daniel Kirch hatten bereits vor Jahren mit Roland Kluttig erfolgreich zusammengearbeitet – als Elsa und Lohengrin in Coburg
In den Walküren-Auschnitten boten die Grazer Damen Corina Koller, Sieglinde Feldhofer, Mareike Jankowski, Marijane Nikolic, Tetiana Miyus, Tatiana Stanishich, Stefanie Hierlmeier und Anna Brull einen eindrucksvollen Walkürenritt. Betsy Horne sang prachtvoll den großen Aufschwung O hehrstes Wunder! Herrlichste Maid!, Alexandra Petersamer sang klangschön und mit gebotener Autorität die Todesverkündigung und Kyle Albertson gestaltete sowohl die lyrischen Phrasen als auch die heldischen Töne im Ausschnitt von Wotans Abschied sehr eindrucksvoll. Hier überzeugte er mich auch als Figur.
Der Siegfried gelang Daniel Kirch wesentlich besser als der Siegmund. Man hatte den Eindruck, jetzt sei er gut eingesungen, er artikulierte die Szene mit Mime (prägnant und verlässlich wie immer Martin Fournier) sehr plastisch und auch das Waldweben gelang überzeugend. Beim jubelnden Schlussduett Leuchtende Liebe, lachender Tod! war er stimmlich geborgen hinter den stahlenden Spitzentönen der Brünnhilde von Alexandra Petersamer.
In den Ausschnitten aus der Götterdämmerung konnten sich noch drei Ensemblemitglieder profilieren: Wilfried Zelinka war ein überzeugender Hagen. Mit langem und ruhigem Atem sang er Hagens Wacht und war auch in den Ensembles ausreichend durchschlagskräftig. Man traut ihm nach diesem Abend die gesamte Rolle zu! Neven Crnić war ein profilierter Gunther – auch ihn würde man gerne in der gesamten Rolle erleben.Sieglinde Feldhofer sang als Gutrune ihre Einwürfe mit der gebotenen lyrischen Anmut. Schon zuvor hatte sie im Walkürenritt als Ortlinde mit dramatischen Tönen positiv überrascht. Daniel Kirch war ein kraftvoller und damit überzeugender Siegfried. Bei der lyrischen Phrase Vergäss‘ ich alles gelangte er neuerlich an seine stimmtechnischen Grenzen.Bei ihm dominieren immer – durchaus eindrucksvoll – die dramatischen Fortetöne, die Piano-Phrasen können sich noch verbessern. Großartig zelebrierte Roland Kluttig mit seinen Grazer Philharmonikern Siegfrieds Trauermarsch. Alexandra Petersamer war auch in Brünnhildes Schlussgesang von eindrucksvoller Intensität.
Die großartige Maria Happel war eine ideale Interpretin der verbindenden Loriot-Texte. Sie erlag nicht der Versuchung der Überzeichnung und wurde zurecht umjubelt.
Im Grunde standen an diesem Abend die Grazer Philharmoniker und ihr Chefdirigent Roland Kluttig im Mittelpunkt. Der Umstand, dass das Orchester auf der Bühne sitzt und die Solisten für ihre Auftritte nur einen schmalen Streifen davor haben, hat für das Publikum den Vorteil, dass man die Orchesterdetails wunderbar mitverfolgen und vor allem, dass die Solisten kaum Gefahr laufen, vom Orchester zugedeckt zu werden. Verbunden ist dies allerdings mit dem Nachteil, dass bei der Orchesteraufstellung geradezu das Gegenteil dessen eintritt, was sich Richard Wagner für Bayreuth erdacht hatte. Dort sitzen nämlich im absteigenden Orchestergraben die Streicher ganz oben und die lautesten Bläser unten. Dazu gibt es einen sehr informativen aktuellen Artikel von BRKlassik.
Natürlich ist dieses Problem Roland Kluttig vollkommen bewusst und er nimmt durch entsprechende dynamische Abstufung Rücksicht auf diese Situation. Und es gelingt ihm auch fast durchwegs, einen wunderbar ausgewogenen Wagnerklang entstehen zu lassen. Nur an wenigen Stellen ist es für mich nicht ideal gelungen: sowohl beim Finale des 1.Akts Walküre als auch beim Götterdämmerungsfinale glänzen mir die Streicher zu wenig und das Blech dominiert zu sehr. Aber das sind ganz persönliche Einwände und mindern nicht das Gesamtbild einer ausgezeichneten Orchesterleistung mit vielen geradezu kammermusikalischen Feinheiten (etwa das delikate Konzertmeistersolo im Waldweben). Es ist so, wie in der eingangs zitierten Kritik zu lesen ist: Die Grazer Philharmoniker dokumentierten ihre hohe Qualifikation!
Es war ein großer und vom Publikum freundlich akklamierter Abend der Grazer Oper und ist hoffentlich ein Impuls, um den Mut zu fassen, nach fast 25 Jahren wieder an eine szenische Aufführung der vollständigen Ring-Tetralogie zu gehen. Der ab 2023/24 neue Intendant Ulrich Lenz findet in Graz die notwendigen Voraussetzungen vor: einen Wagner-erprobten Chefdirigenten, ein Orchester von hoher Qualifikation und ein ambitioniertes Sängerensemble. Das Opernpublikum wird es ihm danken!
6. 5. 2022, Hermann Becke
Szenenfotos: Oper Graz, © Oliver Wolf
Nur noch eine weitere Aufführung am 22.5.2022 – unbedingt zu empfehlen!
Für historisch Interessierte und für jene, die noch die Geduld aufbringen weiterzulesen, hier das bereits eingangs angekündigte
PS zur Grazer Ringtradition der letzten 60 Jahre:
Klaus Billand hat in seinem eingangs zitierten Beitrag auf den Grazer „Ring“ von Christian Pöppelreiter „vor vielen Jahren“ Bezug genommen. Dies sei nun kurz erläutert.
In den Jahren 1987/89 – also vor rund 35 Jahren – gab es in Graz (in Koproduktion mit Salzburg) ein großartiges Ringprojekt, das ich in bester Erinnerung habe. Die Wiener Presse schrieb dazu im Jahre 1989: Graz war die erste Bühne Österreichs, die 1883, sieben Jahre nach der Bayreuther Uraufführung den gesamten Ring präsentierte und nur Graz zeigt gegenwärtig in Österreich die komplette Tetralogie“. Details dazu sind in der hochinteressanten Dissertation von Michael Nemeth „Operngeschichte abseits der Routine“ nachzulesen – Seiten 217 bis 235.
Graz war aber nicht nur die erste Bühne in Österreich, die gleich nach Wagners Tod den vollständigen Ring präsentierte, sondern es gab hier immer eine kontinuierliche und intensive Pflege der Wagner-Werke. In den 1960er-Jahren in Graz gab es praktisch in jeder Saison den kompletten Ring oder zumindest einzelne Teile davon, z. B. Die Walküre in den Jahren 1961,1962,1963,1967,1968 – das gehörte zum Stammrepertoire des Grazer Hauses. Mit dem Pöppelreiter-Ring der Jahre 1987/89 schaffte Graz internationales Aufsehen. Noch heute findet man in youtube die Aufzeichnungen aller vier Teile – hier z.B der vollständige Siegfried. Seither gab es nur mehr im Jahr 2000 eine Grazer Ring-Produktion . Klaus Billand hat also absolut recht mit seiner Anregung, nach 25 Jahren wieder einen Grazer Ring in Angriff zu nehmen – die aktuelle Loriot- Produktion beweist, dass die musikalischen Voraussetzungen dafür absolut gegeben sind!