Warum nur schwirrten mir während der gestrigen Aufführung von Beethovens FIDELIO immer wieder Tannhäusers verzweifelte Ausrufe „Zuviel, zuviel“ im Kopf herum? (Nicht nur, weil ich TANNHÄUSER am Abend zuvor hatte erleben dürfen.)
Hier ein Versuch, subjektive Antworten auf die Frage zu finden.
„Todsünden“ der Regie
Intendant und Regisseur Georges Delnon hatte den FIDELIO 2018 für „sein“ Haus inszeniert. Die philosophische und intellektuelle Auseinandersetzung muss immens gewesen sein, viele zwar hochinteressante, aber auch schwere Lesekost darstelllende Beiträge diverser Geistesgrößen im Programmheft zeugen davon (Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Heiner Müller u.a.m.). Daneben spielten die deutsche Wiedervereinigung und die Symbolkraft des deutschen Waldes für die Konzeption des Regisseurs eine zentrale Rolle. Mit Verlaub, das ist für die meisten Operngänger „zuviel“. Wir befinden uns also in einem Vestibül einer Villa in der DDR, Büro und Wohnküche des Gefängnisverwalters Rocco zugleich. Aktenschränke können aus der geblümten Tapete herausgefahren werden, in den Akten sind echte Leichen begraben. Bodentiefe Fensterfronten geben nach hinten den Blick in den Wald frei, ein Wald, der mal leuchtend grün eine Idylle samt Bambi vorspielt, sich aber auch bedrohlich bewegen, uns näher kommen kann, wie weiland der Wald von Birnam in MACBETH.
Im zweiten Akt sehen wir einen weissen Isegrim zwischen den Bäumen, am Ende ist es ein zu Eis erstarrter Winterwald. Die Konnexion zwischen Freischütz-Wald und FIDELIO wird mir nicht klar und ich kann sie aus den Texten im Programmheft nicht extrahieren. Erneut: Zuviel. Ganz arg wird es, wenn Leonore ihre große Arie (Abscheulicher, wo eilst du hin) vor dem schwarzen Zwischenvorhang singen muss. Denn nun flimmert auch noch irgendein kluges Zitat im Halbdunkel über den Vorhang, dazu die Übertitel und die wunderschöne Arie. Dieses System wiederholt sich eins zu eins beim Duett „Oh namenlose Freude“. Die Multitasking – Fähigkeit der Zuschauer überstrapaziert und ist irgendwie den Sängern gegenüber respektlos. Erneut: Zuviel. Dass man als intellektueller Regisseur die singspielhaften, komischen Szenen in Beethovens idealistischer Befreiungsoper nicht so ganz goutieren mag, ist nachvollziehbar. Aber wenn man schon, wie Delnon hier in Hamburg, neue Handlungsstränge aufpfropft, sollten die auch irgendwie zu Ende geführt werden. Hier also wird Marzelline zu einem pubertierenden Schulmädchen, verliebt sich in Fidelio, will sich mit im Schulranzen versteckten Damenschuhen attraktiver für den Umschwärmten machen. So weit so gut. Auch dass sie auf dem Klavier mehr schlecht als recht Beethovens FÜR ELISE übt und dem Gouverneur Don Pizzarro zur Unterhaltung vorspielen muss, geht noch in Ordnung. Dass sie dann aber sowohl von Jaquino als auch von Pizarro vergewaltigt wird, ist zu harte Kost, zumal dieser Handlungsstrang mit losen Enden hängenbleibt. Zuviel. Für einzelne Nachrichten aus dem Staatssender hat man prominente Stimmen aufgenommen, nämlich die von Hannelore Hoger und Hans Löw. War bestimmt nicht billig.
Und soviel hat das auch nicht gebracht: Pizarro hört sich den Dialog zwischen Rocco und Fidelio bei deren Abstieg in Florestans Verlies wie ein Hörspiel im Radio an. Warum? Überwachungsstaat? Im ersten Akt sieht man während längerer Zeit einen nackten Mann im Aktenschrank, Tuch über dem Kopf, ein Folteropfer. Meine Sitznachbarin sagte laut: „Ich gehe nicht in die Oper, um nackte Männer zu sehen.“ Genau da stellt sich das Problem mit Opern wie FIDELIO. Im Programmheft analysierte Günther Anders in einem Text aus dem Jahr 1950 das sehr treffend. Er konstatierte, dass allein schon die Kunstgattung „Oper“ der Botschaft einer Oper im Wege steht, ein Werk wie FIDELIO sowohl in Hitlers Nazi-Deutschland bejubelt wurde, als auch beim Wiener Kongress für „Garanten der europäischen Unfreiheit“ (Kaiser Franz, König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander) gespielt worden war. Schon in der Vergangenheit gelang es also nicht, die Menschen spüren zu lassen, worum es in FIDELIO wirklich geht – die Inszenierung an der Staatsoper Hamburg schafft es durch die intellektuelle Überladenheit leider auch im Heute nicht zu berühren oder aufzurütteln, zuviel Ballast steht der emotionalen Wirkung im Wege. Für die Bühne (eigentlich ein guter Raum, aber nicht für dieses Werk) zeichnete Kaspar Zwimpfer verantwortlich, die dazu passenden Kostüme schuf Lydia Kirchleitner.
Kein Funkenflug
Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg spielten (wie anlässlich der Uraufführung der letzten Fassung des FIDELIO) die Leonoren-Ouvertüre Nr. 3. Die originale Fidelio-Ouvertüre hatte Beethoven erst ein paar Tage später fertiggestellt. Sehr plastisch führte Nagano die Musiker „per aspera ad astra“, vom zerfaserten Dunkel ins Licht. Subtil gestaltete Übergänge, die Trompetenrufe aus dem hinteren Parkett und der allumfassende Jubelschluss vermochten zu begeistern. Danach war jedoch das Feuer verglüht. Es wurde anständig gesungen, da kann man nicht meckern, doch so richtige Jubelstimmung für vokale Leistungen wollte nicht aufkommen. Die Vorstellung war auch bei weitem nicht ausverkauft, und am Ende waren auch einige deutliche Misfallensbekundungen zu vernehmen. Jacquelyn Wagner als Fidelio/Leonore beeindruckte vor allem in den lyrischen Passagen mit schöner Stimmführung und mit sicherer Höhe und war klug genug, ihre nicht allzu voluminöse Stimme im Forte-Bereich nicht überzustrapazieren. Ob diese Partie zur Zeit wirklich eine gute Wahl für ihr Repertoire ist, wage ich zu bezweifeln.
Benjamin Bruhns war das genaue Gegenteil: Klangstark und durch Mark und Bein gehend sein „Gott, welch Dunkel hier“, eine bombensichere Bank in der gefürchteten Tenorpartie. Die „namelose Freude“ der beiden gelang dann prima. Simon Neal musste einen widerlich schleimigen Bösewicht Pizzarro darstellen, da geriet ihm in Verbindung mit seinem markant gestaltenden Bariton ein intensives Porträt dieses unsäglichen Charakters. Andreas Bauer Kanabas war ein durch und durch solider Rocco mit der besten Diktion aller auf der Bühne. Narea Son war eine fantastische Marzelline, für mich klar die beste sängerische Leistung an diesem Abend. Hell und klar leuchtete ihr wunderschön timbrierter Sopran, führte das Quartett im ersten Akt mit einnehmendem Wohlklang an. Bernhard Berchtold als Jaquino beeindruckte durch seinen sicher geführten Tenor und eine starke Bühnenpräsenz als alternder, geifernder Junggeselle auf Brautschau. Chao Deng war der in dieser Inszenierung etwas zwielichtige Minister Don Fernando und Dae Young Kwon und Doojong Kim verliehen dem Gefangenenchor die berührendsten Stellen. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor (wie Sektenmitglieder weiss gewandet) lief vor allem im Schlussbild zu überwältigender Form auf.
Fazit: Intellektuell für mich überladen, daher nicht berührend; die musikalische Seite anständig, aber ohne Begeisterungsstürme auszulösen.
copyright: Arno Declair