Dass der Maler, Theatermacher und Brecht- Schüler Achim Freyer nicht viel von über ein Werk gelegter Aktualisierungen hält, hat er des Öfteren mit seine Inszenierungen deutlich gemacht. Viel lieber legt er seine eigenen, die typisch Freyerschen Folien, als Klammer über die Theaterbühnen. Und da bei ihm Inszenierung, Licht, Kostüme und Bühnengestaltung aus einer Hand kommen, entsteht auch bei seinem PARSIFAL, an den er sich nun im hohen Alter von über 80 Jahren zum ersten Mal wagte, eine Art Gesamtkunstwerk, das erst mal theoretisch sehr gut mit Wagners Gesamtkunstwerk (wo Text und Musik sich so eindringlich zusammenfügen) zu harmonieren scheint. Wie erleben also auch hier die aus Freyers Arbeiten bekannten, dick weiss geschminkten Gesichter, akzentuiert mit kräftigen schwarzen Augenringen, auch schräg versetzten, was den Figuren etwas gruselig Fratzenhaftes verleiht, dazu die ebenfalls vorwiegend in Schwarz und Weiss gehaltenen, teils clownesken Kostüme. Die Kundry ist mit ihren bis zu den Füssen reichenden Dreadlocks ein archaisches Urweib – zwischen Gothic-Look und Erda – welches sie selbst im Klingsor-Akt bleibt. Das Verführerische, Sündige der Klingsor-Welt wird durch Blumenmädchen mit üppigen, aufgeblasenen Brüsten dargestellt, die aus einem Russ Meyer Film stammen könnten.
Klingsor selbst ist ein ganz bunter Vogel mit knallroten Haaren, lindengrünem Anzug und magentafarbener Riesenkrawatte, unter der er seine schmerzhafte, selbst durchgeführte Kastration verbirgt. Gurnemanz trägt quasi die Welt, Freyers sich nach oben spiralförmig fortsetzende Bühne, auf dem Kopf. Der an seinen Sünden und der Wunde leidende Amfortas trägt natürlich Dornenkrone und muss fortwährend die Haltung des Gekreuzigten einnehmen. Die Bühne wird hinten durch halbrunde Rampen abgeschlossen, unten und oben gespiegelt, so dass ein Effekt der Unendlichkeit entsteht. Sehr geschickt und auch sängerfreundlich gemacht. Sie ist mit einem gigantischen Gazevorhang verdeckt, auf den all die Gedankenfetzen, welche sich Freyer zum Werk gemacht hat, eingeblendet werden. Das reicht von SCHWARZ, TRAUM, SCHMERZ, SCHLAF, MITLEID zu WEIB, GEFAHR (!), bis zu LEIB, TOD, ERLÖSUNG, FLUCH und LUST. Sicher, dies sind die Ingredienzien von Wagners Schwanengesang, doch reicht es wirklich aus, diese nur als Wortfetzen dem Publikum quasi mit pädagogischer Pedanterie einzubläuen?
Im Schlussbild verdichten sich diese Projektionen, sie bleiben nun alle auf dem Vorhang stehen. Doch wirkliche Erlösung ist auf der Bühne nicht zu erleben, denn der ganze Abend wirkt trotz aller grotesker Elemente überaus statisch. Am Ende steht PARSIFAL wie ein irrer Cäsar da, die Bühne dekonstruiert sich zusehends, viele der mehr oder weniger rätselhaften Symbole fallen von den Wänden (Buchstsben, Ziffern – Hammer und Sichel sowie das Häschen bleiben aber). Die Zeiger der herunterfallenden Uhr sind nun blutrot – eine sehr pessimistische Sicht auf das Werk und die Welt. Auch das Mädchen mit dem leuchtenden Reifrock, welches vor den Gralsrittern am Ende des ersten Aktes langsam und linkisch mit seinem Bunny über die Bühne ging, ist nun im Hintergrund wieder zu sehen (Zitat aus Schlingensiefs PARSIFAL in Bayreuth?). Da schleicht sich ein krankhaft pädophiler Gedanke in die "keusche" Männerwelt der Gralsritter. Doch solche Aspekte werden eben nur angedeutet, (zu) vieles wird im Ungefähern, im Dunkeln gelassen, eine optisch etwas ermüdende Statik schleicht sich ein.
Das hat den Vorteil, dass man sich über lange Zeit vollständig auf die Schönheiten von Wagners Partitur einlassen kann, "die Kunst des Hörens, die lernen muss, wer das Werk begreifen will", wie Theodor W. Adorno zu Recht angemerkt hatte. Dazu hatte man im ersten und dritten Akt mehr als reichlich Gelegenheit, denn diese weihevolle Musik wurde vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg regelrecht zelebriert, mit einer Klangschönheit und Rundung, die einen völlig in ihren geheimnisvollen Sog riss. Das Tempo des Dirigenten, insbesondere im ersten Akt, war schon sehr gedehnt. Das muss man erst mal aushalten wollen, doch dafür wurde man belohnt mit Feinheiten der Musik, mit weich gezeichneten Farben und transparent evozierten Motiven. Dazu begeisterte der Gurnemanz von Kwangchul Youn, welcher seinen unendlich langen (manche sagen auch unnötig geschwätzigen) Erzählungen sonores, überaus wohl artikuliertes Profil verlieh und auch im dritten Akt kaum Ermüdungserscheinungen zeigte. Wolfgang Koch triefte als Amfortas vor Selbstmitleid – genau wie des sich für diesen gefallenen "Heldenritter" gehört – ein weinerlicher Antiheld, mit schön timbriertem Bariton. Die rätselhafte Kundry (ein Konglomerat aus Wagners Frauenbildern, Heilige, Dienerin, Verführerin, Sünderin, nach Erlösung Dürstende) ist ja die einzige Frau, welche sich in die hermetisch abgeriegelte Männergesellschaft verirrt. Claudia Mahnke verlieh ihr vokal ein herbes Profil, fand in der Verführungsszene und der anschliessenden Selbstoffenbarung im zweiten Akt zu sehr eindringlichen Piani, sanft schmeichelnd, ohne jegliche hysterischen Anflüge. Andreas Schager sang den Parsifal mit klarer Präsenz, jugendlich, kraftvoll, wobei er vor allem im dritten Akt nicht seinen allerbesten Tag zu haben schien, da im Forte die Stimme nicht immer ganz sauber intonierte. Grossartig gestaltete Vladimir Baykov den Horrorclown Klingsor, welcher, durch den Effekt der Verdoppelungen dieser Figur, dem Akt viel an szenischer Kraft verlieh. Sehr überzeugend sang auch Tigran Martirossian den alten Titurel, erst gekonnt etwas zittrig klingend (im Rollstuhl, mit geknickter Tiara), dann nach dem "Genuss" des Anblicks des enthüllten Grals zu Neuen Kräften gelangend. Sehr schön gestalteten die Blumenmädchen ihre Szene, weihevoll erklangen die Chöre der Gralsritter (Einstudierung: Eberhard Friedrich).
Wer also mit Freyers artifizieller und besonderer Ästhetik etwas anfangen kann, der kommt bei diesem PARSIFAL durchaus auf seine Kosten, wer Regiearbeiten mit konkreteren Aussagen und Stellungnahmen (auch provozierenden) bevorzugt, wird sich eher etwas langweilen und gerne die Augen schliessen.Werk:
PARSIFAL, das letzte Bühnenwerk Wagners, fügt sich nahtlos in sein Schaffen ein. Die Thematik des Erlösungsgedankens, welcher seit seinem FLIEGENDEN HOLLÄNDER sein Werk und seine (zum Teil kruden) Philosophien durchzogen hatte, wird in dieser Oper nochmals in aller Deutlichkeit veranschaulicht: Die Erlösung des Menschen von seinen Sünden durch eine von Mitleid erfüllte, reine Seele. Hier ist es Parsifal, der reine Tor, welcher durch Mitleid wissend wird.
Nach dem Willen Wagners (und vor allem seiner zweiten Frau Cosima) sollte PARSIFAL ausschliesslich in Bayreuth gespielt werden dürfen. Doch die Metropolitan Opera verletzte den Urheberrechtsschutz bereits 1903 mit einer szenischen Aufführung in New York. 1913 lief die offizielle Schutzfrist aus. Cosima kämpfte vergeblich um eine Verlängerung. Das Opernhaus Zürich zeigte die erste legitime und vollständige Aufführung ausserhalb Bayreuths.
Musikalisch gehört Wagners Partitur zum Erhabensten, was der Komponist geschaffen hatte, auch wenn, wie oft bei ihm, gewisse Passagen vor Geschwätzigkeit nur so strotzen (die unendlich langen Erzählungen Gurnemanz‘). Doch dann beglückt die Musik wieder mit einem berührenden, nie leeren Pathos, einer unendlichen Schönheit, Tiefe und Reinheit, einem „ausserordentlichen Gefühl, Erlebnis und Ereignis der Seele im Grunde der Musik, das Wagner die höchste Ehre macht.“ (Friedrich Nietzsche, der sich von Wagner abgewandt hatte, nachdem er das Vorspiel I gehört hatte.)
Neben aller Erhabenheit und Schönheit der Musik ist PARSIFAL aber auch ein inhaltlich streckenweise kaum geniessbares Konglomerat aus christlichen (Fusswaschung, Taufe, Abendmahl, heilige Lanze, Christi Blut), buddhistischen (Figur der Kundry mit ihren Wiedergeburten, Verbot des Tötens von Tieren) und freimaurerischen (Initiationsriten, Männerbünde) Ingredienzen. Es wurde als unmenschliches, frauenfeindliches und die sterile Männerwelt und ihre militärisch-mönchischen Ideale verklärendes Spektakel bezeichnet. (Wapnewski). Der von Wagners Witwe Cosima begründete Kult der beinahe alljährlichen „Enthüllung“ des Grals, sprich Aufführung des PARSIFAL im Festspielhaus auf dem grünen Hügel, begründete den an pseudoreligiöse Hysterie gemahnenden Gottesdienstcharakter, welchen eingefleischte Wagnerianer in diesem Werk erleben wollen. Für andere hingegen war PARSIFAL (und seine Zelebrierung in Bayreuth) eine „Geschichte, die ordentlich schlecht riecht wie die Kirche, die nie gelüftet worden ist … eine Weihrauchmuffelei, eine ungesunde geistliche Wundmalverzückung … fast ein Brechmittel.“ (Elisabeth von Herzogenberg).
Kaspar Sannemann 5.10.2017
Bilder siehe unten Premierenbericht