Hamburg: „Die Frau ohne Schatten“

Premiere am 16.4.2017

Spannende, tiefenpsychologische Vertikalinszenierung

Immer wieder drängt sich bei der „Frau ohne Schatten“ ein Vergleich mit Mozarts „Zauberflöte“ auf. In beiden Opern regieren Geisterwesen. Sarastro entspricht dem Geisterkönig Keikobad, nur das dieser niemals persönlich auftritt, die Königin der Nacht hat ihr Pendant wiederum in der Amme in der „Frau ohne Schatten“. Und wie bei Mozart haben wir auch bei Richard Strauss die doppelten Paare. Bei Mozart müssen diese aber erst zueinander finden und sich bewähren. Bei Strauss hingegen haben die beiden Paare, Kaiser-Kaiserin, beide Herrscher der südöstlichen Inseln in einem Geister- bzw. Traumreich, das von den sieben Mondbergen umschlossen wird, und das irdische Färberpaar einander bereits gefunden. Ihre Liebe aber ist gefährdet und droht zu zerbrechen. Sie muss sich erneuern und wird – hie wie dort – harten Prüfungen unterzogen.

In Carlo Gozzis „Turandot“ erscheinen gleichfalls ein Barak als Mentor von Prinz Kalaf und ein König Kaikobad, in dessen Diensten sich Kalaf als Gärtner verdient gemacht hatte. Der literarisch belesene und versierte Hugo von Hofmannsthal verwendete für sein dreiaktiges Libretto zur „Frau ohne Schatten“ neben Goethes „Das Märchen“ aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ (1795), Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“ (1827), Teile aus den „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“ und sein eigenes Drama „Der Kaiser und die Hexe“ (1897). Der vom Schauspiel kommende Regisseur Andreas Kriegenburg rückt nun in seiner Inszenierung die namenlose Frau des Färbers Barak, gemäß der Absicht von Hofmannsthal und Strauss, in den Mittelpunkt und lässt sie zu Beginn – in leider nur schwer verständlichem Deutsch – einige Sätze murmeln: „Zu dir, zu dir! Nimm mich fort von hier… Ich will nicht!“. Dann wirft sich die Färberin erschöpft auf eine schäbige Matratze und erträumt den Inhalt der Oper, wobei sie ihr eigenes Schicksal jenem der feenhaften Kaiserin gegenüberstellt. Das Bühnenbild von Harald B. Thor ermöglicht eine spannende Vertikalreise, wie sie sonst nur im Rheingold anzutreffen ist. Oben das Geisterreich, in der Mitte die Bühne, unten die Welt des Färberpaares und den drei Brüdern des Färbers. Eine weiße Wendeltreppe dient der Überwindung dieser Spielebenen und erinnert an die biblische Jakobsleiter in Gen 28,11ff, die Arnold Schönberg zu seinem unvollendeten Oratorium „Die Jakobsleiter“ inspiriert hatte.

Hier steigen die Wesen aus der Geisterwelt zu den Menschen hinab. Und je nachdem, ob sich die Ereignisse in der Geister- oder der Menschenwelt ereignen, bewegen sich die drei Etagen nach oben oder nach unten. Die Doppelung der Kaiserin und Färberin im dritten Akt, die in Krankenhausbetten liegend über die Bühne geschoben werden, vermag als Paraphrase auf Pedro Almodóvars Film von 1988 “Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, hier in ihrem traumatischen Gebärzwang vorgeführt, nicht so recht zu überzeugen. In dieser Freud‘schen Psychoklinik „versteinert“ aber auch der in einem Rollstuhl sitzende Kaiser wie nach einem Schlaganfall. Die mehrheitlich weißen Kostüme von Andrea Schraad ermöglichen dem Personal des Geisterreiches, dem Geisterboten, dem Hüter der Schwelle und dem Damenchor anmutige tänzerische Bewegungen. Der Herrenchor wiederum bewegt sich als namenlose Masse in grauen Anzügen mit Krawatte und weißen Masken. Am Ende der Oper wird aus ihnen eine Schar Ballspielender Jugendlicher in bunten T-Shirts. Interessanter Weise verzichtete der Regisseur auf das Versinken der Färberwelt am Ende des zweiten Aktes. Dafür gestaltet er jene Szene in der der Kaiser vermeint, seine Gattin sei ihm untreu geworden, mit äußerster Brutalität, indem er sein Schwert in ihre Scheide stößt und die Amme danach eine Unmenge an gelben Stoffballen zur Wundstillung unter das Laken des im Krankenbett liegenden Doubles der Kaiserin schiebt. Parallel zum Happy End der Oper, in der die Färberin Barak auf der Wendeltreppe nach oben in die Geisterwelt zieht und beide, Kaiserin und Färberin sichtlich ihren Eisprung, ihre Mutterschaft, empfinden und kitschig auf weißen Parkbänken umringt von einer Horde von Kindern sitzen, inszenierte Kriegenburg aber auch einen negativen Ausgang, bei dem Barak um die Färberin, die aus ihrem Traum einer existenzialistischen Sinnsuche nicht mehr erwacht, trauert.

Für den erkrankten Kent Nagano war Axel Kober kurzfristig in die Bresche gesprungen und es gelang ihm, trotz weniger Verständigungsproben mit den Solisten einen ausgewogenen, spannungsreichen Abend am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters musikalisch zu leiten. In Hamburg kam, neben chinesischen Gongs, Windmaschinen, Castagnetten und einer Celesta auch eine Glasharmonika zum Einsatz. Dankenswerter Weise nahm sich der Dirigent immer dann zurück, wenn die drei Damen hörbar drohten, allzu sehr zu forcieren. Emily Magee hat die Kaiserin, laut Programmheft, bereits in der letzten Inszenierung von Keith Warner unter Simone Young 2007 gesungen. Zwar schien mir ihre Intonation nicht immer ganz rein und ihre Koloraturen bisweilen etwas schwerfällig, dafür gelangen ihr wunderschöne Gesangslinien und sie überzeugte vollends in ihrem Ringen um Annahme oder Verweigerung des Lebenstrankes, den ihr der (weibliche) Hüter der Schwelle tänzelnd überreichen möchte. Linda Watson feierte als nicht immer textverständlich, dafür aber auf ganzer Linie hochdramatische Amme ihr diabolisches Rollendebüt. Ein weiteres Rollendebüt gab Lise Lindstrom als Färberin, mit der Hofmannsthal Pauline, der Gattin des Komponisten ein poetisches Denkmal gesetzt hatte. Denn auch sie wollte zu Beginn der Ehe nicht auf ihre Karriere verzichten und versagte sich daher beharrlich dem Kinderwunsch ihres Gatten.

Sie ist keineswegs eine matronenhafte Frau, sondern eine junge, schlanke Frau auf der Suche nach Selbstverwirklichung und Emanzipation. Mit dem verständnisvollen Barak, einem Abbild des Komponisten, gab auch der polnische Bariton Andrzej Dobber sein gelungenes Rollendebüt. Den häufigen hysterischen Anfällen seiner Gattin begegnete er immer wieder mit geradezu stoischer Ruhe. Robert Saccà bot einen noblen, stimmlich etwas zurückhaltenden Kaiser. Alex Kim durfte in der stummen Rolle des androgynen Jünglings seine Verführungskünste an der Färberin auch in Gestalt des heiligen Sebastians – erfolglos – versuchen. Bogdan Baciu gab sein Rollendebüt als tänzelnder Geisterbote und Gabriele Rossmanith ergänzte rollengerecht als Hüter der Schwelle des Tempels und Stimme des Falken. Die drei Brüder Baraks, der Einäugige, der Einarmige und der Bucklige, wurden von Alexey Bogdanchikov, Bruno Vargas und Markus Nykänen spielfreudig interpretiert. Marta Swiderska, Mitglied des internationalen Opernstudios, war als geheimnisvolle Stimme von oben zu vernehmen. Die Stimmen der Wächter der Stadt gehörten zu Julian Arsenault, Alin Anca und Alexander Roslavets. Die drei Dienerinnen waren Diana Tomsche, Luminita Andrei und Marta Swiderska. Eberhard Friedrich leitete den Damenchor exzellent, ebenso Jürgen Luhn jenen der Hamburger Alsterspatzen.

Das Publikum des nahezu ausverkauften Hauses bedachte alle Mitwirkenden mit Applaus und Jubelrufen. Auch wenn nicht alles in dieser Produktion auf den ersten Blick schlüssig wirkte, muss sie als akribisch durchdacht und gelungen bezeichnet werden. Bravo!

Harald Lacina, 3.5.2017

Fotocopyright: Brinkhoff/Mögenburg