„Jetzt fehlt nur noch, dass sie Ostereier suchen!„
Schon vor den ersten Takten der neuen Hamburger Frau ohne Schatten schleppt sich die Färbersfrau über die Bühne, murmelt (für mich) Unverständliches, bevor sie sich auf der rechten Seite auf ihr Lager wirft. Es ist diese Figur, die Andreas Kriegenburg ins Zentrum seiner Deutung der Oper stellt, ihre Flucht in eine märchenhafte Traumwelt (die Geschichte von Kaiser und Kaiserin in ihren japanisch anmutenden, komplett weißen Lagenlookkostümen von Andrea Schraad ist bloß imaginiert), weil sie den Druck und die Armut der schmutzigen, trostlosen Färberwelt mit ihren niedrigen Decken, billigen Möbeln und schmutzigen Kitteln nicht mehr aushält. Eine Wendeltreppe verbindet geschickt die verschiedenen Handlungs- und Bewusstseinebenen miteinander. Die junge Frau indes verliert mehr und mehr die Kontrolle über die Grenzen von Realität und Traum, der Regisseur lässt sie in von weißen Stäben durchzogenen Seelenräumen von Harald B. Thor, die bisweilen auch an die Anonymität einer Psychiatrie in der Entstehungszeit des Werkes erinnern, ihren eigenen Albtraum erleben, bis sie nach endlosen Kämpfen am Ende versteht, dass es die Kraft der Liebe und der Solidarität ist, die den Menschen in extremen Situationen überleben lässt – ein gut gemeinter Appell in einer Zeit, „in der das Irrationale, das Narzisstische und das Egomane Konjunktur haben und … Stimmen … lauter werden müssen, die nach Empathie und Verantwortung rufen“, wie Kriegenburg es formuliert. Leider verkompliziert er bei grundsätzlich enger Orientierung an Hofmannsthals Text in vielen Momenten die ja ohnehin nicht sehr übersichtliche Handlung zusätzlich durch die Verdopplung der Figuren der Kaiserin und der Färberin.
Zuschauer und Zuschauerinnen, die das Programmheft nicht genau gelesen haben, dürften damit ebenso überfordert gewesen sein wie mit der (nicht überzeugend autobiographisch motivierten) Einbeziehung christlicher Symbolik – der Kaiser trägt ein metallenes Folterwerkzeug auf dem Kopf, das an Jesu Dornenkrone erinnert, es gibt eine Anspielung auf den heiligen Sebastian. Leider fehlt es der Produktion streckenweise auch an der nötigen Spannung, es gibt viel Konventionelles zu sehen, Darsteller etwa, die bald eine sehr artifizielle Körpersprache umzusetzen haben, dann aber wieder so agieren, als hätte ihnen niemand Vorgaben gemacht. Eine echte Identifikation mit den Figuren und ihrem Schicksal fällt da schwer, und so dauert es bis zum dritten Aufzug, bis die Story wirklich anrührt, vor allem wenn Barak die kleinwüchsigen, in graue Anzüge gesteckten Menschlein von ihren Masken und Sakkos befreit und fröhliche Teenager in bunten T-Shirts darunter sichtbar werden, die sich im Park mit allerlei Ballspielen vergnügen, während die beseelten Protagonistenpaare sich Frühlingsblumen schenken, Erdbeeren in den Mund stecken, auf den weißen Parkbänken die Hände nicht mehr voneinander lassen können und den Kindersegen bestaunen – „Jetzt fehlt nur noch, dass sie Ostereier suchen!“, kommentierte eine Dame hinter mir und beschrieb die naiv-kitschige Idylle der in grünes Frühlingslicht getauchten Szene (der stets sich ändernden Beleuchtung von Stefan Bolliger kommt in dieser Produktion große Bedeutung zu, jede Stimmung wird farblich umgesetzt, jede Veränderung illustriert) damit ganz treffend. Für pessimistischere, nüchternere Zuschauerinnen und Zuschauer bietet die Regie immerhin einen Alternativschluss an: Die zweite Färberin sinkt im dritten Aufzug auf ihrem Lager nieder und erwacht nicht mehr aus ihrem Schlaf.
Auch musikalisch sprang der Funke spät über, erst vor dem dritten Aufzug mischten sich ein paar Bravorufe in den eher höflichen, moderaten Beifall für Kent Nagano, der bis dahin eine tadellose, viele Feinheiten der komplexen Partitur hörbar machende, sorgfältig einstudierte Wiedergabe von großer klanglicher Schönheit leitete, die aber ähnlich wie das Geschehen auf der Bühne nicht recht unter die Haut ging und arg diskret blieb: Mir war bei aller kultivierten Klangschönheit in den ersten beiden Aufzügen manches zu glatt, zu weichgespült, zu gefällig. Für die Sängerinnen und Sänger müssen die große Zurückhaltung des Philharmonischen Staatsorchesters und das fleißige Einsatzgeben des Maestros freilich eine Offenbarung gewesen sein – ebenso wie die meist günstige Position weit vorn in wichtigen Momenten.
Emily Magee war schon in der Premiere der Vorgängerproduktion eine umjubelte Kaiserin, ich selber habe sie 2009 in Zürich in der Partie erlebt – ganz so selbstverständlich kommen die gefürchteten Töne über dem System acht Jahre später nicht mehr, der eine oder andere erfordert doch hörbare Arbeit, aber grundsätzlich bewältigt sie diesen Teil der Partie immer noch auf erstklassigem Niveau, während die Stimme sich leider in Mittellage und Tiefe überhaupt nicht weiterentwickelt hat, da rettet sich die Künstlerin allzu oft in wenig charmante, harsche Brusttöne und Sprechgesang, was mancher mit Expressivität verwechseln mag. Einen eher schwachen Eindruck hinterließ der rollenerfahrene Roberto Saccà als Kaiser, ein paar strahlende Acuti entschädigten kaum für viele graue, sehr verhaltene und mitunter an Markieren erinnernde Töne – da hatte Alex Kim als Erscheinung des Jünglings vokal fast mehr anzubieten als der bekanntere Kollege. Über den meisten Applaus konnte sich Andrzej Dobber freuen, der einen sehr anrührenden Barak gab, zu dem auch leichte Gebrauchsspuren auf der wuchtigen, aber diszipliniert eingesetzten, bei einigen hohen Tönen etwas Anlauf und Nachdruck benötigenden Stimme hervorragend passten – ein sehr gelungenes Rollendebüt. So uneingeschränkt kann ich das über Lise Lindstrom s erste Färberin nicht sagen, die sich zweifellos mit Haut und Haaren auf die neue Aufgabe stürzte und optisch einigen Eindruck hinterließ, die sicher auch alle Töne für die Partie hat und sehr, sehr laut singen kann, deren schlanker Sopran aber eben doch eher zu einer Salome passt – mir fehlte der wirklich hochdramatische Aplomb, eine satte Tiefe, eine Durchschlagskraft, die nichts mit Lautstärke an sich zu tun hat, sondern mit einer besonderen Farbe, über den die großen Vorgängerinnen in Hamburg und anderswo verfügt haben, namentlich Gladys Kuchta, Birgit Nilsson, Gabriele Schnaut oder auch Linda Watson, die 2008 in Düsseldorf eine sehr beeindruckende Färberin war und die Partie im Herbst 2015 noch in Kopenhagen gesungen hat, bevor sie nun bei der Hamburger Premiere ins Mezzofach zurückkehrte und ihre erste Amme gab (im Oktober übernimmt sie an der Wiener Staatsoper die Babulenka in Prokofjews Spieler).
Eine raffinierte Darstellerin ist die Amerikanerin bekanntermaßen nie gewesen, diese Amme ist weniger eine verschlagene Schlange als eine maliziöse Majestät, vom Ausdruck her von ihrer Brünnhilde oder ihrer Turandot kaum zu unterscheiden – es ist immer Linda Watson, die eine Partie gibt, nie vergisst man die Interpretin hinter der Figur -, aber natürlich kann sie die Rolle wirklich singen, auch der zweite Aktschluss etwa brachte sie nicht in Schwierigkeiten, das Vibrato hielt sich in vertretbaren Grenzen, und insgesamt klang die Stimme weniger müde und grau als zuletzt im Sopranfach. Mit prachtvollem Bariton und großen Gesten ließ Bogdan Baciu als Geisterbote aufhorchen, Gabriele Rossmanith war eine ordentliche Besetzung des Hüters der Schwelle und des Falken, Marta Swiderska eine prägnante Stimme von oben, Alexey Bogdanchikov, Bruno Vargas und Markus Nykänen ergänzten das Ensemble als Baraks Brüder.
Thomas Tillmann 21.4.2017
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