Hamburg: „Lulu“, Alban Berg

besuchte Aufführung am 15.02.2017

TRAILER

Eine Lulu der Sonderklasse

Alban Bergs Oper „Lulu“ dauert in Hamburg inklusive zwei Pausen geschlagene vier Stunden – und dabei wird nicht einmal die von Friedrich Cerha instrumentierte Version des 3. Aktes gespielt. Den gibt es trotzdem: Regisseur Christoph Marthaler und Dirigent Kent Nagano haben eine ungewöhnliche Lösung für Bergs unvollendete Oper gefunden. Der dritte Akt liegt nur als Particell vor. Johannes Harneit, Jochen Neurath und Nagano haben eine Fassung für Violine und Klavier eingerichtet, die sich als ungeheuer wirkungsvoll erweist und die Darstellung der Vereinsamung und der Verelendung Lulus noch intensiviert. Der eigentliche Clou besteht aber darin, dass nach den Worten „Mein Engel“, die die sterbende Gräfin Geschwitz ihrer geliebten Lulu zuruft, das komplette Violinkonzert von Berg gespielt wird. Berg hatte dem Konzert den Untertitel „Dem Andenken eines Engels“ gegeben und es der mit 18 Jahren verstorbenen Tochter von Alma Mahler gewidmet. Die hervorragende Solistin Veronika Eberle und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Kent Nagano sorgen für eine traumhafte Wiedergabe. Eberle spielt ihren Part auf der Bühne, im Hintergrund sind Lulu und vier Doppelgängerinnen zu sehen, die mit ruhigen Bewegungen eine Atmosphäre des Friedens und der Erlösung erzeugen. Dieser Schluss für Bergs „Lulu“ könnte berührender und überzeugender schwerlich gestaltet werden.

Die Lulu ist bei Marthaler tatsächlich mehr Engel als femme fatale. Eigentlich ist sie ein liebenswertes Mädel, das in ihrem blauen Bademantel fast staunend zur Kenntnis nimmt, was um sie herum geschieht. Erotik spielt zumindest bei ihr nur eine untergeordnete Rolle. Aber sie hat einen unbändigen Bewegungsdrang. Lulu hüpft und turnt, was das Zeug nur hält – anfangs aus jugendlicher Lebensfreude, im letzten Akt wohl eher als Mittel gegen die Kälte auf der Strasse. Barbara Hannigan ist diese Lulu der Sonderklasse. Sie lässt die Grenzen zwischen Gesang, Schauspiel, Tanz und Akrobatik verschwimmen. Wie sie bei aller Aktion, von der Rückwärtsrolle vom Tisch bis zu kopfüber an den Beinen hängend, stets die Kontrolle über ihre makellos geführte Stimme behält und die mit Schwierigkeiten gespickte Partie perfekt erfüllt, ist ein Ereignis.

Marthaler greift in seiner Inszenierung zu dem alten Trick der Bühne auf der Bühne. Der geht hier aber auf, weil er die Künstlichkeit der Charaktere regelrecht „vorführt“. All die Männer, die Lulu verfallen und an ihr zerbrechen, sind die Psychopaten. Nicht Lulu ist ihr Problem, sondern sie selbst. Lulu ist da eher normal. Marthalers Personenführung erweist sich in jedem Moment als stimmig, konsequent und nachvollziehbar. Eine Inszenierung, die ohne grelle Knalleffekte auskommt und ihre Wirkung aus einem ruhigen, fast sachlichen Erzählfluss entwickelt.

Anna Viebrock hat dazu sehr stimmige Bilder entworfen: Zunächst die Probebühne eines abgehalfterten Varietetheaters, dann den vertäfelten Salon eines Herrschaftshauses mit riesiger Treppe im Hintergrund und schließlich der kalte Platz, auf dem sich Lulus Schicksal vollendet. Hier kehrt Dr. Schön als Jack the Ripper zurück.

Rund um Barbara Hannigan agiert ein bis in die kleinste Rolle bestens besetztes Ensemble. Anne Sofie von Otter ist eine still leidende Gräfin Geschwitz, Jochen Schmeckenbecher der zunächst zynische, später auch körperlich gebrochene Dr. Schön. Seinen Sohn Alwa (mit roter, aufmüpfiger Frisur wie Campino) verkörpert Matthias Klink mit gleißendem Tenorglanz. Als Athlet und Tierbändiger überzeugt Zachary Altman ebenso wie Peter Lodahl als Maler, Sergei Leiferkus als Schigolch, Marta Swiderska als Gymnasiast und Martin Pawlowsky als Medizinalrat.

Kent Nagano am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters sorgt für eine kraftvolle, präzise und gleichermaßen aufwühlende Wiedergabe. Eine exemplarisch gut gelungene Inszenierung!.

Wolfgang Denker, 16.02.2017

Fotos von Monika Rittershaus