Premiere am 14. September 2019
Fulminant
Mit einer fulminanten, mehrere Zeitepochen überbrückenden Inszenierung von Halévys „Die Jüdin“ hat die Staatsoper unter Leitung der neuen Intendantin, der Amerikanerin Laura Berman, einen glänzenden Saisonstart hingelegt.
Von den 40 Opern des französischen Komponisten Jacques Fromental Halévy (1799 – 1862) kennt man heute eigentlich nur noch seine selten, in den letzten Jahren allerdings vermehrt aufgeführte Grand Opéra „La Juive“, deren Thema der Konflikt zwischen Christen und Juden und damit der Antisemitismus ist. Nach der Pariser Uraufführung 1835 war das Werk bis in die frühen 1930er-Jahre durchgehend auf den großen europäischen Bühnen zu erleben; anschließend unter der Nazi-Herrschaft durfte es nicht mehr aufgeführt werden, geriet aber auch danach in Vergessenheit. Erst ab 1988 wurde die Oper in Bielefeld (John Dew), Nürnberg und Dortmund wieder auf die Bühne gebracht; auf internationaler Ebene gelang der Durchbruch mit der Wiener Neuinszenierung 1999.
Zum Inhalt der im frühen 15. Jahrhundert zur Zeit des Konzils in Konstanz spielenden Oper: Weil der jüdische Goldschmied Eleazar auch am wegen der Konzilseröffnung verordneten christlichen Feiertag arbeitet, soll er als Ketzer bestraft werden. In einem Schnellurteil fordert der Bürgermeister Ruggiero den Tod für ihn und seine Tochter Rachel. Diese hat sich in einen Mann verliebt, der sich Samuel nennt und nur vorgibt, Jude zu sein, in Wirklichkeit aber der christliche Reichsfürst Léopold ist. Hinzu kommt, dass er mit Eudoxie, der Nichte des Kaisers, verheiratet ist. Aus Eifersucht denunziert Rachel ihren Geliebten als Verführer, und ein von Kardinal Brogni angeführtes Tribunal verurteilt das Liebespaar und Éléazar zum Tode.
Rachel lässt sich durch die flehentliche Bitte der Prinzessin Eudoxie zur Zurücknahme ihrer Anschuldigung gegen Léopold überreden und erwirkt damit seine Begnadigung. Sie selbst könnte durch Konversion zum christlichen Glauben am Leben bleiben, entscheidet sich aber für den gemeinsamen Tod mit ihrem vermeintlichen Vater. Im Augenblick ihres grausamen Todes im siedenden Wasserkessel enthüllt Éléazar dem früheren Magistrat und jetzigen Kardinal Brogni Rachels wahre Identität: Sie ist dessen verloren geglaubte Tochter, die Éléazar seinerzeit unbemerkt aus einer Feuersbrunst gerettet hatte. Während Éléazar triumphierend in den Tod geht, bricht Brogni zusammen.
Die Regisseurin Lydia Steier nahm die Eigenschaften einer „Grand Opéra“ ernst , indem sie einen ganz großen historischen Bogen schlug, um die traurige Zeitlosigkeit der Judenverfolgung zu dokumentieren, allerdings unter Weglassung des damals obligatorischen Balletts und in umgekehrter Reihenfolge: Im 1. Akt in den USA der 1950er-Jahre verdecken bunte Luftballons, ein protziger Straßenkreuzer und fröhliches Feiern Fremdenhass und Intoleranz. Samuel mit Elvis-Tolle und Kippa singt in Rock’n‘ Roll-Manier (zu originaler Gitarrenbegleitung von Halévy) ein Ständchen für Rachel. Anschließend geht es nach Deutschland, wo sich beim jüdischen Pessach-Fest zum Ende der Weimarer Republik die Konflikte zwischen Juden und Christen verschärfen, wenn Diffamierung und Überwachung die Oberhand gewinnen. Wenn im dritten Akt Rachel ihr Verhältnis mit dem Christen Léopold öffentlich macht, wird der Skandal um „Jud Süß“ Oppenheimer im barocken Württemberg zitiert, ohne dass ein Bezug zu diesem historischen Fall erkennbar wird. Über die Kerker der spanischen Inquisition 1492 gelangt man schließlich im 5. Akt zum spätmittelalterlichen Konzil in Konstanz, das als großes Volksfest gezeigt wird. Karren mit Zerrbildern von Juden werden durchgefahren, ein jüdischer Junge, der in den Bildern zuvor als stummer Zeitzeuge zu sehen war, liegt tot auf einer Holzpalette, an der die lüsterne Menge vorbei defiliert. Die Hinzufügung des Jungen mit einem christlichen Widerpart in nahezu jedem Bild wirkte allzu aufgesetzt. Bei der Hinrichtung muss Rachel, von aus dem 1.Akt bereits bekannten Mickymaus-Schergen begleitet, in einen Glaskubus mit kochendem Wasser hineinspringen.
Besonders beeindruckend sind die aufwändigen Bühnenaufbauten (Bühne und Video: Momme Hinrichs/fettFilm) und die detailreiche Kostümierung aller Beteiligten (Alfred Mayerhofer): Nach hinten wird die Bühne von einer großen hellgrauen, beweglichen Mauer begrenzt, vor der die auffallend lebhaften Ensemble- und Massenszenen spielen; Video-Einspielungen illustrieren unaufdringlich.
Die Regisseurin hat die handelnden Figuren sehr glaubhaft agieren lassen, so dass nicht nur im Ganzen, sondern auch in den privaten Szenen die eindringliche Spannung stets durchgehalten wurde.
Die musikalische Verwirklichung hatte beachtlich hohes Niveau. Die fünf sehr anspruchsvollen Hauptpartien waren mit zwei Gästen und teilweise neuen Ensemblemitgliedern besetzt. Die zentrale Figur Éléazar war Zoran Todorovich anvertraut, der als Gast an sein Stammhaus aus den 90er-Jahren zurückkehrte und die in jeder Beziehung schwierige Partie des religiösen Eiferers ungemein eindringlich gestaltete. Sein durchschlagskräftiger Tenor bewährte sich in den vielen hochdramatischen Passagen; von besonderer Güte war das wunderbar ruhig ausgesungene Gebet beim Pessach-Fest im 2.Akt. Kleinere Intonationstrübungen schmälerten den positiven Gesamteindruck seiner Leistungen nicht. Neu im Ensemble ist die Amerikanerin Hailey Clark, die in der Rolle der Rachel imponierte. Sie führte ihren fülligen Sopran sicher und ausdrucksstark durch alle Lagen und stellte die bis zum schaurigen Ende bedingungslos Liebende glaubwürdig dar. Die Ehefrau ihres Geliebten, Prinzessin Eudoxie, war die Argentinierin Mercedes Arcuri, auch neu im Ensemble. Sie ließ einen äußerst flexiblen, höhensicheren Koloratursopran hören und gefiel ebenfalls durch intensiv glaubhafte Gestaltung. Léopold alias Samuel war Matthew Newlin von der Deutschen Oper Berlin, der die gefürchteten, extremen Höhen der Partie mit seinem hellen, schlanken Tenor sicher beherrschte. Schließlich erlebte man als Éléazars Gegenspieler Kardinal Brogni den bewährten hannoverschen Bass Shavleg Armasi, dessen prägnante Darstellung und gekonnte Stimmführung einmal mehr überzeugte.
Mit sonorem Bass ließ das neue Ensemblemitglied Pavel Chervinsky als Ruggiero aufhorchen. Der russische Bass Yannick Spanier, seit 2017 in Hannover, ergänzte als Offizier Albert sicher. Mit prächtiger Klangmacht und bei aller Bewegungsvielfalt ausgewogenem Singen beeindruckten Chor und Extrachor in der Einstudierung von Lorenzo Da Rio.
Dass der lange Opernabend spannungsreich blieb und positiv in Erinnerung bleiben wird, lag auch ganz wesentlich an der musikalische Gesamtleitung von Constantin Trinks. Er hielt den großen Apparat mit präziser Zeichengebung gut zusammen und sorgte mit dem gut disponierten Niedersächsischen Staatsorchester mit gewaltigen Ausbrüchen und lyrisch sanften Tönen für kontrastreiches Musizieren.
Das Publikum im nicht voll besetzten Haus war begeistert und spendete allen Beteiligten starken, mit Bravos durchsetzten Applaus.
Fotos: © Sandra Then
Gerhard Eckels 25. September 2019