Kassel: „Tannhäuser“

Archetypische Heldenreise mit Tarot-Karten

Um es vorwegzunehmen: In szenischer Hinsicht hat sich die Aufführung voll gelohnt. Mit der Verpflichtung von Lorenzo Fioroni für die Neuproduktion des „Tannhäuser“ zum Wagner-Jahr 2013 ist dem schon oft bewährten Staatstheater Kassel wieder einmal ein großer Coup gelungen. Fioroni, dessen diverse Regiearbeiten aus Mainz und Heidelberg man noch in bester Erinnerung hat, bewies auch hier, dass er ein Meister seines Fachs ist. Er versteht es ganz ausgezeichnet, mit Sängern umzugehen, die unter seiner Ägide zu darstellerischer Höchstform aufliefen, und sein außergewöhnliches, nichtsdestotrotz sehr beeindruckendes Konzept, das vielfältige Tschechow’sche und Brecht’sche Elemente enthielt, mit Bravour umsetzten. Wie nicht anders zu erwarten, siedelte der Regisseur die Handlung nicht in einem altbackenen, biederen romantischen Flair an, sondern bettete es in einen neuen, modernen Kontext ein, den er gekonnt mit psychologischen Elementen anreicherte. In dem von ihm gewählten zeitgenössischen Rahmen gelingen Fioroni ungemein eindrucksvolle, packende und insbesondere stimmige Momente, die Ausfluss einer hervorragend durchdachten, geistigen und sehr innovativen Konzeption sind, die zeitweilig auch mit ironischen Brechungen operiert, was dem Ganzen eine besondere Würze gibt.

Wenn sich der Vorhang öffnet, erschließt sich dem Blick ein von Paul Zoller entworfener, riesiger Kubus mit Balkon, auf dem die gutbürgerlichen Eheleute Venus und Tannhäuser zu Beginn beim Austern-Frühstück einen heftigen Streit austragen. Das in steriles Weiß getauchte Innere des Quaders wird von einer im Hintergrund aufragenden Treppenlandschaft mit immer wieder aufscheinenden Projektionen bestimmt, die das Einheitsbühnenbild für alle drei Aufzüge bildet und mittels der Drehbühne in die verschiedensten Stellungen gebracht werden kann. Trefflich wird damit der Kreislauf der Welt symbolisiert, in der am laufenden Band Feste gefeiert werden. So geht die Fete bei Venus, in der eine junge Sängerin – ursprünglich der junge Hirt – beherzt ein pastorales Liedchen zum Besten gibt, nahtlos über in die ausgelassene Party des gut situierten Adligen Hermann von Thüringen, dessen Star die große Künstlerin Elisabeth ist. Ihre große Hallenarie gerät zur glänzenden Primadonneneinlage, in deren Verlauf sie einige der von Katharina Gault gefällig eingekleideten Gäste herzlich begrüßt. Unter diesen tummeln sich zahlreiche bekannte Märchenfiguren wie Rotkäppchen und der böse Wolf, die sieben Raben, Schneewittchen sowie die Prinzessin mit der goldenen Kugel und ihr Froschkönig. Hier gerät die Inszenierung zur heiter-vergnüglichen und liebevollen Märchenparodie, mit denen Fioroni den Brüdern Grimm, die ja lange in Kassel ansässig waren und dieses Jahr wie der Bayreuther Meister ihr Jubiläum begehen, nachhaltig seine Reverenz erweist.

Es ist eine ausgesprochen oberflächliche, eigentlich nicht ernst zu nehmende Spaßgesellschaft, die Fioroni da auf die Bühne stellt. Nur auf letztlich belanglose Äußerlichkeiten bedacht, fehlt ihr jedweder Tiefgang. Feiern heißt das Obermotto, das hier nachhaltig gepflegt wird. Sowohl bei Hermann als auch bei Venus ist man immer nur auf lustvolle Partys aus. Letztere erscheint auch beim Sängerwettstreit, dessen Teilnehmer per Losverfahren durch Champagnerflaschendrehen bestimmt werden. Die Trennung zwischen Wartburg und Venusberg ist aufgehoben, die Gesellschaft tanzt in immer derselben monotonen Art und Weise auf beiden Festivitäten und pflegt eigentlich ein recht ödes Dasein. Zwischen den geistig hochstehenden Idealen der Wartburg und dem erotischen Treiben im Venusberg wird nicht mehr unterschieden. Dass Venus und Elisabeth den Titelhelden, auf den sie zu Beginn des dritten Aufzuges gemeinsam warten, unabhängig voneinander mit ihren nackten Beinen zu reizen versuchen, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Alles folgt immer demselben sinnentleerten, unsinnlichen Alltagstrott, der keine geistigen Ziele mehr kennt und dementsprechend im Laufe des Abends immer marodere Züge annimmt. Im dritten Aufzug sind die Gäste dann schon ziemlich heruntergekommen. Der ausgemachten Dekadenz dieser im Untergang befindlichen Gesellschaft trägt der Regisseur dadurch Rechnung, dass er den Tod in Gestalt dreier Frauen mit Totenkopfmasken ständig präsent sein läst. Eine der Todesbotinnen trägt ein Skelett bei sich. Das erste Opfer des Sensenmannes ist die dem Superstar Elisabeth hoffnungslos unterlegene Hirtensängerin, die mit der Sinnlosigkeit ihres Daseins nicht mehr zurechtkommt und sich demzufolge an der Rückwand erhängt. Sie ist die erste, die sich der Tristesse der Verhältnisse bewusst wird und davor per Selbstmord kapituliert. Auch Tannhäuser erkennt die Fragwürdigkeit dieser Versammlung. Er vermag nicht zu akzeptieren, dass sich die übrigen Minnesänger über das von ihm sehr ernst genommene Thema Liebe ständig nur lustig machen. Schließlich kann er ihre ausgemachte Ironie nicht mehr länger ertragen, lässt provokant die Hosen herunter und greift anschließend Elisabeth zuerst an die Busen und dann in den Schambereich – eine Grenzüberschreitung ersten Ranges, die aber für die eigentlich völlig wertfreie Spaßgesellschaft in keinster Weise akzeptabel ist und nachhaltig ihren Widerstand hervorruft. Jetzt zeigen die Gäste auf einmal ein anderes Gesicht. Sie nehmen gewalttätige Züge an, schlagen Tannhäuser nieder und zerbrechen ein Bild des Papstes auf seinem Kopf.

Dem Oberhaupt der katholischen Kirche kommt im Deutungszusammenhang der Produktion eine ganz zentrale Bedeutung zu. Dass der Papst, der zu Beginn auch einmal gleichsam als spiritueller Weltenlenker den ganzen Kubus in Bewegung hält, später Tarot-Karten verteilt, mag manchem Zuschauer blasphemisch vorgekommen sein. Hier ist allerdings der Schlüssel zu Fioronis Konzept verborgen. Er hebt das Ganze auf eine überzeugende innovative Ebene, deren Aussage nichts weniger als brillant ist und beredtes Zeugnis von der immensen psychoanalytischen Beschlagenheit des Regisseurs ablegt. Zwar bringt uns hier C. G. Jungs auf der esoterisch-spirituellen Erklärung beruhender Begriff der Synchronizität nicht weiter, jedoch führt die psychologische Erklärung, die in den Tarotkarten ein projektives bzw. assoziatives Verfahren erblickt und folgerichtig als einen Spiegel innerer und äußerer Prozesse deutet, geradewegs in die Seele des Titelhelden, an dem der Regisseur in Anlehnung an dieses Verständnis grundlegende, typisch menschliche Erfahrungen beleuchtet, die als Mittel der Selbsterkenntnis un- oder vorbewusste Gefühle an die Oberfläche bringen. Auf diese Weise wird Tannhäuser zum Spiegel seines eigenen Selbst. Es ist eine archetypische Reise, die er im Verlauf des Stücks immer stringenter durchläuft. Die Fahrt tritt er als Narr der Tarot-Karten an. Daraus erklärt sich, dass der Protagonist von Fioroni als überaus lächerlicher, unbeholfener Idiot dargestellt wird, eben als Narr und Esel, als dessen äußerer Ausdruck ihm am Ende des zweiten Aufzuges dann auch ein Eselskopf verpasst wird. Diesen Einfall des jungen Regisseurs, auf einem auf den ersten Blick so unscheinbaren Detail wie den Karot-Karten seine Interpretation aufzubauen, kann man als absolut kühn und genial bezeichnen. Er belegt, dass Fioroni zu den ganz Großen der Regiezunft gehört.

Das an Peter Konwitschny gemahnende Ende atmet große Resignation und erstickt geradezu in Schopenhauer’schem Pessimismus. Elisabeth entkleidet sich auf der von Partyabfall bedeckten Bühne und legt ein Büßerhemd an. Anschließend schneidet sie sich die Haare ab und verweilt, nun gänzlich dem Irrsinn verfallen, an der Rampe, ohne das um sie herum Geschehende noch wirklich wahrzunehmen. Eine irgendwie geartete Erlösung findet nicht statt. Auf eine Leinwand werden Wagners Regieanweisungen für den Schluss projiziert, die von der Menge aufmerksam gelesen werden, während der Chor im Hintergrund in Konzertkleidung den Schlussgesang intoniert. Tannhäuser, der sich letztlich nicht zwischen der wahnsinnigen Elisabeth und der betrunkenen Venus entscheiden kann, hat in dieser Welt nichts mehr verloren. Er steigt aus der Handlung aus und verlässt die Bühne durch die Tür des Zuschauerraumes. Venus nimmt es locker und angelt sich Wolfram.

Auf hohem Niveau bewegten sich auch die musikalischen Leistungen. Gespielt wurde eine Mischfassung. Die Ouvertüre und das anschließende Bacchanal entstammten der Pariser Fassung, während der Rest in der Dresdener Fassung ertönte. Patrik Ringborg steht wohl eine große Karriere bevor. An diesem Abend vermochte er zusammen mit dem äußerst diszipliniert und versiert aufspielenden Staatsorchester Kassel das Publikum in einen gleichsam magischen Klangrausch zu versetzen. Bereits das Vorspiel und das Bacchanal präsentierte er mit viel Feuer und atemberaubendem Elan. Auch im Folgenden ließ er es nie an Spannung und Intensität mangeln. Bei aller glühenden Leidenschaftlichkeit des Klangbildes kamen aber Transparenz und feinfühlige Detailarbeit nicht zu kurz. Beherzt zauberten Dirigent und Musiker große musikalische Bögen und eine Vielzahl an Coleurs, was ihre Leistungen ungemein vielschichtig und differenziert erscheinen ließ.

Insgesamt zufrieden sein konnte man auch mit den Sängern. Die Titelpartie bewegt sich vorwiegend im Passaggiobereich des Baritons und ist deshalb für von dieser tieferen Stimmlage kommenden Tenöre schwer zu singen. Das wurde an diesem Abend wieder nur allzu offenkundig. Sein Bruchton ‚e’ weist Paul McNamara als eigentlichen Bariton aus, der dann auch bereits zu Beginn mit der unangenehm hohen Lage des Tannhäuser ganz schön auf Kriegsfuss geriet. Die drei Strophen seines Liedes an Venus waren von großer stimmlicher Anstrengung, viel zu kurzem Aushalten eines Spitzentones und einmal sogar von einem leichten stimmlichen Einbruch geprägt. Obwohl er sich im Verlauf der Aufführung steigern konnte und insbesondere die heiklen „Erbarm Dich mein“-Rufe passabel hinbekam, wäre er gut beraten, diese Partie nicht allzu oft zu singen. Eine phantastische Leistung erbrachte Stefan Zenkl, der als Wolfram mit gut fundiertem Stimmsitz, der Intelligenz eines Liedersängers, feinen Phrasierungen und vielfältigen dynamischen Nuancen zu begeistern wusste. Puren balsamischen Wohllaut verbreitete der Landgraf Hermann von Hee Saup Yoon, der einen vorbildlich italienisch geschulten, sonoren Bass sein Eigen nennt. Grundsolides Tenormaterial brachte Johannes An in die Rolle des Walther von der Vogelweide ein. Ein markant singender Biterolf war Marc-Olivier Oetterli. Vokal eher unauffällig blieben Musa Nkuna (Heinrich der Schreiber) und Krzysztof Borysiewicz (Reinmar von Zweter). Mit bestens focussiertem, bis zum hohen ‚h’ kräftigem, voll und rund klingendem Sopran stattete Kelly Cae Hogan die Elisabeth aus. In ihrem geradezu wild anmutenden, verzweifelten Flehen um Tannhäusers Leben setzte sie auch imposante darstellerische Akzente. Der Mezzosopran von Ulrike Schneider s Venus hätte vielleicht noch etwas mehr Wärme und Sinnlichkeit vertragen können, wies aber ein solides Fundament auf und wurde ansprechend geführt. LinLin Fan gab mit angenehm timbrierter, leidlich sitzender Sopranstimme den jungen Hirten. Nicht gerade gefällig war der von Marco Zeiser Celesti einstudierte Chor, der insbesondere bei den Männern zu viele dünne Stimmen aufwies, was sich nachteilig auf die Gesamtwirkung insbesondere des Pilgerchores im dritten Aufzug auswirkte, aber auch schon im zweiten Aufzug negativ zu Buche schlug. Um die Damen war es besser bestellt.

Fazit: Wieder einmal eine Kasseler Wagner-Inszenierung, die schon von ihrem intellektuellen Gehalt her ungemein zu fesseln vermochte. Ein herzliches Dankeschön an die Theaterleitung für diesen phantastischen „Tannhäuser“, dessen Besuch jedem Opernfreund dringendst empfohlen wird.

Ludwig Steinbach, 8. 5. 2013
Die Bilder stammen von Nils Klinger.

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