Ein Konzert von stilistischer Vielfalt
Unter der Leitung des britischen Gastdirigenten Nicholas Collon trat das hr-Sinfonieorchester auf, begleitet vom renommierten Geiger Vadim Gluzman. Das Konzert begann mit Magnus Lindbergs „Chorale“, einer Komposition, die den innovativen Ansatz des finnischen Komponisten in Bezug auf Orchestrierung und harmonische Sprache zeigt. Uraufgeführt im Jahr 2002 von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle, hat dieses Stück weithin Anerkennung für seine kühne Verwendung von Texturen und Farben erhalten. Strukturiert als ein einziger Satz, entfaltet sich „Chorale“ in einer Reihe von kontrastierenden Abschnitten. Das Werk beginnt mit einer feierlichen und majestätischen Einleitung, die die Bühne für das thematische Material bildet, das folgt. Lindbergh zitiert dazu einen Choral aus einer Bach-Kantate, ebenso wie Elemente aus Alban Bergs Violinkonzert. Im Laufe des Stücks verwendet Lindberg eine reichhaltige Palette orchestraler Klangfarben, von üppigen Streichertexturen bis hin zu glänzenden Blechbläserfanfaren, und schafft so ein Gefühl von Drama und Intensität. Eine der markantesten Eigenschaften von „Chorale“ ist seine harmonische Sprache, die traditionelle Tonalität mit moderner Chromatik und Dissonanz verbindet. Lindberg navigiert geschickt zwischen Konsonanz und Dissonanz und schafft so Momente der Spannung und Entspannung. Der Titel „Chorale“ deutet auf eine Verbindung zur Tradition der Choralmusik hin, aber Lindbergs Interpretation des Formates ist alles andere als konventionell. Während gelegentliche Andeutungen choralmusikalischer Melodien auftauchen, werden sie oft durch Lindbergs harmonische Sprache und rhythmische Vitalität transformiert. Besonders eindrucksvoll sind die finalen Momente der Komposition, wo sich in hohen Streichersphähren ein Hauch von Melodie in erlösenden Harmonien zeigt. Ein forderndes Werk, das vom hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Nicholas Collon mit viel Aufmerksamkeit und stilistischer Sicherheit zum Vortrag gelangte.
Im Anschluss daran gab es Erkki-Sven Tüürs neues drittes Violinkonzert »Gespräche mit dem Unbekannten«. Tüür, ein herausragender estnischer Komponist, hatte dieses Violinkonzert im Auftrag des hr-Sinfonieorchesters komponiert, und die europäische Erstaufführung versprach eine interessante Begegnung zu werden. Solist Vadim Gluzman, international gefeierter Geiger mit einer reichen musikalischen Geschichte, stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Er studierte bei Zakhar Bron und später bei Dorothy DeLay an der renommierten Juilliard School. Seine künstlerische Sensibilität und sein Engagement für zeitgenössische Musik machen ihn zu einem der vielseitigsten Geiger seiner Generation. Gluzmans einzigartige Interpretation und technische Meisterschaft entführten das Publikum auf eine klangliche Reise durch die expressiven Harmonien dieses zeitgenössischen Werkes. Seine künstlerische Sensibilität verlieh dem Stück eine ganz eigene Gestalt. Vadim Gluzman, virtuos wie immer, geleitete das Publikum durch das Werk, in welchem die Dialoge mit dem Unbekannten auf musikalischer Ebene ausgetragen wurden. Das „Gespräch“ ist immer ein Austausch der Innenwelt des eigenen Ichs. Die Stimme der Geige agiert dabei als klangliches Individuum innerhalb der eigenen Lebensreise. Collons einfühlsame Leitung des hr-Sinfonieorchesters trug dazu bei, die Komplexität und Tiefe dieses Werkes engagiert zu gestalten. Von ihm wurde Gluzman aufmerksam begleitet. Das hr-Sinfonieorchester ließ dieses eigensinnige Werk in vielerlei Farben schillern. Das Publikum zeigte sich angetan und spendete langen Applaus für die Ausführenden sowie den anwesenden Komponisten. Dirigent des Abends, Nicholas Collon, geboren 1983 in London, ist Gründer des Aurora Orchestra, ein innovatives Ensemble, das für seine dynamischen und kreativen Aufführungen bekannt ist. Besonderes Merkmal dieses Orchesters ist, dass eine Vielzahl der aufgeführten Werke auswendig vorgetragen wird! Außerdem ist er Chefdirigent des Finnischen Radio-Sinfonieorchesters. Collon entdeckte seine Leidenschaft für Musik schon früh und begann im Alter von sechs Jahren, Klavier zu spielen. Sein musikalisches Talent wurde schnell offensichtlich, und er gewann mehrere Preise als junger Pianist. Diese frühe Erfahrung legte den Grundstein für seine spätere Karriere als Dirigent. Nach seinem Studium am Eton College und am King’s College in Cambridge, wo er Musik studierte, entschied sich Collon, seine musikalischen Fähigkeiten weiter zu vertiefen und absolvierte ein Dirigierstudium am Royal Northern College of Music in Manchester. Dort erhielt er unter anderem Unterricht von renommierten Dirigenten wie Sir Mark Elder und Sir Colin Davis. Sein Repertoire erstreckt sich von der Klassik bis zur zeitgenössischen Musik, wobei er besonders für seine Interpretationen von Werken des 20. und 21. Jahrhunderts gefeiert wird. Collon arbeitet regelmäßig mit führenden Orchestern auf der ganzen Welt zusammen und tritt als Gastdirigent bei renommierten Festivals auf. Nicholas Collon ist nicht nur ein herausragender Dirigent, sondern auch ein engagierter Pädagoge. Er ist regelmäßig als Gastdozent an Musikhochschulen und Konservatorien tätig und setzt sich dafür ein, die nächste Generation von Musikern zu inspirieren und zu fördern. Der Höhepunkt des Abends manifestierte sich in Richard Strauss‘ »Eine Alpensinfonie«. Diese sinfonische Komposition steht zweifellos als ein majestätisches Werk da, das die künstlerische Brillanz und das technische Genie dieses bedeutenden Komponisten eindrucksvoll unterstreicht. Entstanden zwischen 1911 und 1915, fand die Uraufführung dieses opulenten Stücks im Jahre 1915 statt. Seitdem erhebt es sich als eines der eindrucksvollsten orchestralen Werke des 20. Jahrhunderts. Die „Alpensinfonie“ stellt eine musikalische Expedition durch die dramatische Landschaft der Alpen dar. Richard Strauss hat mit diesem sinfonischen Meisterwerk die klangliche Pracht und die Tiefen dieser Region auf unvergleichliche Weise eingefangen. Bestehend aus 22 aufeinanderfolgenden Abschnitten, bietet die „Alpensinfonie“ ein breites Spektrum an Emotionen und Landschaften, die den Aufstieg eines Wanderers in die Alpen und seinen anschließenden Abstieg schildern. Strauss bediente sich dabei meisterhaft seiner gesamten orchestralen Palette, um die Vielfalt und Pracht der Alpenlandschaft zu malen. Von den majestätischen Gipfeln über rauschende Wasserfälle bis hin zu stillen Bergseen – jede Facette der Alpen wird durch musikalische Motive und Klangfarben lebendig. Die Struktur des Werk folgt einem programmatischen Ansatz, wobei jede musikalische Episode eine bestimmte Szene oder ein bestimmtes Ereignis in der Berglandschaft darstellt. Durch die Verwendung eines ausgedehnten Orchesters und einer reichhaltigen harmonischen Sprache gelingt es Strauss, die Erhabenheit und Schönheit der Natur in Töne zu verwandeln. Die „Alpensinfonie“ ist nicht nur ein beeindruckendes Beispiel für Strauss‘ meisterhafte Orchestrierungstechnik, sondern auch eine klangliche Hommage an die überwältigende Schönheit und Kraft der Natur. Die Aufführung dieses Werkes erfordert eine besondere Orchestergröße von weit mehr als 100 Musikern, welche Strauss mit seiner Forderung nach einem „Riesenorchester“ erfüllte. Neben dem Hauptorchester werden zusätzlich 16 Bläser als Fernorchester benötigt, um Jagd-Effekte zu erzeugen. Darüber hinaus kommen eine Orgel, Donner- und Windschmaschine zum Einsatz, um die klangliche Vielfalt und die dramatischen Elemente des Stückes zu unterstützen. Mit ihrer epischen Dimension und emotionalen Tiefe gehört sie zu den herausragenden Werken der Spätromantik und fasziniert sowohl Musikliebhaber als auch Naturfreunde auf der ganzen Welt. Glückliches Frankfurt, das nun bereits zum dritten Mal in dieser Saison dieses herrliche Werk erleben konnte. Den Beginn machte Christian Thielemann mit der Staatskapelle Dresden mit einer noblen Orchesterschau. Vor wenigen Wochen dann die zweite Version mit Thomas Guggeis und dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester, der sich bedauerlicherweise in seiner Kleinteiligkeit verzettelte und dem Werk seine programmatische Gestaltung schuldig blieb. Aller guten Dinge sind bekanntlich drei und so geht in diesem kleinen Vergleich überdeutlich das hr-Sinfonieorchester mit seinem fabelhaften Gastdirigenten Nicholas Collon als beste Darbietung durch das Ziel. In diesem monumentalen Werk konnte das hr-Sinfonieorchester unter Collons Leitung sein ganzes Können entfalten, ein wahres Alpenglühen war die Folge. Die dramatische Entwicklung wurde von den Musikern des hr-Sinfonieorchesters mit beeindruckender Präzision und Hingabe dargeboten. Die majestätischen Klänge und die kraftvolle Orchestrierung wurden von den herausragenden Blechbläsern brillant ausgeführt, während die Streicher und Holzbläser für die feinen Nuancen und Farben sorgten, die dieses Werk so fesselnd machen. Höchstes Lob verdienten sich die überragenden Solisten an Horn, Trompete und Oboe. Das viel geforderte Schlagzeug glänzte an diesem Abend, wie lange nicht. Der gesamte Klangkörper musizierte mit größtem Einsatz und wunderbarer Klangnote.
Nicholas Collon leitete das hr-Sinfonieorchester mit Präzision und Leidenschaft. Großartig proportionierte er das Werk und stellte es unter einen großen Bogen, woraus sich ein Vortrag, wie aus einem Guss ergab. Herrlich langsam, ohne Hast, formulierte er den einleitenden Cluster für einen spannungsvollen Beginn. Collon sorgte für ein tiefes Erleben der einzelnen Abschnitte, sodass die Musik geradezu dreidimensional wirkte. Fabelhafte Raumeffekte, wie die Jagdmusik oder die an mehreren Stellen positionierten Herdenglocken, die beiden Windmaschinen und die auseinander aufgestellten Donnerbleche, sorgten für ein faszinierendes klangliches Rundum-Erlebnis. Collon traf die Balance dieses schweren Stückes sehr sicher und realisierte zudem eine vorzügliche Durchhörbarkeit. Selten ist die Verflechtung der Leitmotive derart klar artikuliert zu vernehmen, wie es an diesem Abend in der Alten Oper vom fabelhaften hr-Sinfonieorchester zu hören war. Der bescheiden wirkende Dirigent führte den Klangkörper gänzlich uneitel mit klarer Hand, ohne extrovertierte „Choreographie“ oder inhaltslose Äußerlichkeit am Pult. Richard Strauss hätte sich über seinen jungen Kollegen gefreut, sagte er doch einst so trefflich: “Nicht der Dirigent soll schwitzen, sondern das Publikum!“ Collons klare musikalische Ideen und seine innovative Herangehensweise verliehen jedem Abschnitt eine besondere Note und machten den Abend zu einem ganz besonderen Erlebnis für alle Anwesenden. Es baute sich somit eine große Spannung auf, die sich sogleich nach einigen Augenblicken Stille in Bravo-Salven entlud. Das Publikum würdigte das Konzert mit außergewöhnlichem Jubel, der die Begeisterung und den tiefen Eindruck, den die Aufführung hinterlassen hatte, widerspiegelte. Es war bewegend zu erleben, wie klar die musikalische Botschaft das Publikum erreichte, das alle Beteiligten ausgiebig feierte. In der Kombination von Strauss‘ meisterhafter Komposition und der herausragenden Interpretation des hr-Sinfonieorchesters unter Nicholas Collons Leitung wurde dieser so berührende Vortrag der „Alpensinfonie“ zu einem Ereignis der Sonderklasse.
Dirk Schauß, 27. April 2024
Konzert in der Alten Oper Frankfurt
26. April 2024
Vadim Gluzman, Violine
Nicholas Collon
hr-Sinfonieorchester