Frankfurt, Konzert: „Mahlers 6.“, BR-Symphonieorchester unter Simon Rattle

Am 21. April versammelte sich die Konzertgemeinde in der Alten Oper Frankfurt, um Zeuge eines außergewöhnlichen musikalischen Ereignisses zu werden. Unter der herausragenden Leitung von Sir Simon Rattle präsentierte das renommierte Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein ungewöhnliches Programm. Begleitet wurden sie dabei von dem Bariton Lester Lynch. Das Orchester feiert dieser Tage sein 75-jähriges Bestehen und spielte an den beiden voraus gegangenen Tagen Schönbergs gigantische „Gurre-Lieder“ in München. Nun ein nicht minder anspruchsvolles Konzert in Frankfurt, danach in Köln und dann geht es weiter auf kleine US-Tournee. Der Abend begann mit Paul Hindemiths „Ragtime (wohltemperiert)“, einem seltsamen Werk, das die Synthese zwischen traditioneller Klassik und der aufkommenden Ära des Jazz verkörpert. Inspiriert von Johann Sebastian Bachs wohltemperiertem Klavier, schuf Hindemith eine ironische Neuinterpretation des Ragtime-Stils, die durch ihre Komplexität und Beiläufigkeit bestimmt ist.

© Florestan Pluto

Es ist eher eine Komposition, die Hindemith beiläufig verfasst haben mag. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks präsentierte das Werk mit beeindruckender Präzision und Lebendigkeit, wobei Sir Simon Rattle die musikalische Vielfalt dieses Stücks hervorhob. Alexander von Zemlinskys „Symphonische Gesänge, Op. 20“ entführten das Publikum in eine Welt der klanglichen Unterschiede. Basierend auf Texten aus der Harlem-Renaissance, porträtierte Zemlinsky in diesen Gesängen die Schönheit und Tragik des menschlichen Lebens. Dieses Werk zählt nicht zu seinen besten Eingebungen, vermag aber dennoch durch seine besondere Atmosphäre Interesse zu wecken. Die klangliche Brillanz des Abends wurde durch die herausragende Leistung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks realisiert, ergänzt durch den Gesang von Bariton Lester Lynch. Der Sänger strahlte ein inneres Erleben der Lieder aus. Sein markanter Bariton wirkte dynamisch, allerdings zu eindimensional und bewegte sich primär im Forte. Seine Verständlichkeit war gut, wenngleich der Text von ihm zu wenig gestaltet wurde. Der Ausdruck wirkte fortwährend gleichförmig, ohne deutliche Akzentuierungen oder Empfindungen. Hinzu kam sein begrenztes Volumen, sodass Rattle ihn leider einige Male mit dem Orchester überdeckte. Dennoch war es eine reizvolle Begegnung mit einem seltenen Werk.

Der Höhepunkt des Abends war zweifellos Gustav Mahlers „Sinfonie Nr. 6 a-Moll“, auch bekannt als „die Tragische“. Sie wurde zwischen 1903 und 1904 komponiert und ist eines der bedeutendsten Werke des spätromantischen Repertoires. Mahler selbst bezeichnete die Sinfonie als „die persönlichste [Sinfonie], die ich je geschrieben habe“, was auf die tiefen emotionalen, autobiografischen Bezüge hinweist, die in dem Werk verankert sind. Mahler entfesselt in diesem epischen Werk eine tiefe Intensität und klangliche Vielfalt, die in einer vernichtenden Apokalypse endet. Unter der begeisternden Leitung von Sir Simon Rattle präsentierte das Orchester eine Interpretation von atemberaubender Kraft. Die vielschichtige Struktur und dramatische Spannung dieses Werkes wurden von ihm packend zum Ausdruck gebracht, wobei jede Nuance und jeder musikalische Kontrast mit größter Präzision und Sensibilität dargeboten wurden. Rattle dirigierte auswendig, eine Seltenheit bei diesem Werk. Er hat eine ganz besondere Beziehung zu dieser Sinfonie, die er bereits seit über 40 Jahren dirigiert. Die Struktur und der Charakter der vier Sätze offenbarten die meisterhafte Komposition, die das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen weit umspannte.

© Florestan Pluto

Der erste Satz, ein ausgedehnter Marsch, führte das Publikum durch eine Abfolge von heroischen und düsteren Passagen, die von Mahlers einzigartiger Fähigkeit zur klanglichen Dramatisierung geprägt waren. Mahler integriert hier auch Elemente des österreichischen Volksliedes, um eine klangliche Vielfalt zu schaffen, die von heroischen Fanfaren bis hin zu beklemmenden Passagen reicht. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks überzeugte mit kraftvollen Bläser- und wuchtigen Streicherpassagen, die von tiefem Pathos und einer faszinierenden Dynamik bestimmt waren. Intensive Effekte realisierte der große Schlagzeug-Apparat. Das Andante moderato, hier als zweiter Satz von Rattle präsentiert, entfaltete eine Welt introspektiver Schönheit und emotionaler Tiefe. Mahler komponierte diesen Satz als eine Art idyllische Rückblende, die an vergangene Glücksmomente erinnert. Die innigen Streichermomente und die melancholischen Holzbläsermelodien wurden mit einer zarten Sensibilität und musikalischen Finesse interpretiert, die die lyrische Schönheit dieses Satzes unterstrichen. Die Liebesmusik an Mahlers Gattin Alma ist von tiefer Empfindung geprägt. Dazu kommen ungewöhnliche Klangwirkungen durch Herdenglocken als Synonym für unberührte, ursprüngliche Natur. Das folgende Scherzo brachte eine Explosion klanglicher Farben und rhythmischer Vitalität. Die rasenden Läufe der Streicher und die pulsierenden Bläsermelodien erzeugten eine Atmosphäre ungebändigter Energie und wilder Groteske. Herrlich sarkastisch mischt sich immer wieder das klappernde Xylofon in das orchestrale Getöse. Der vierte Satz, das gewaltige Finale, entfaltete sich endzeitlich mit dramatischer Wucht. Eine halbe Stunde lang durchschreitet Mahler alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins. Er entfesselt hier eine emotionale Tour de Force, die das Publikum auf eine emotionale Achterbahnfahrt durch die Abgründe der menschlichen Seele mitnimmt. Der Höhepunkt dieses Satzes sind die berühmten Hammerschläge, die wie das unabwendbare Schicksal selbst wirken und das Werk mit einer erschütternden Endlichkeit abschließen. Diese spektakulären Momente wurden vom Orchester mit überwältigender Ausdrucksdichte dargeboten. Ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erwies sich einmal mehr als ein Kollektiv der musikalischen Exzellenz, indem es die musikalischen Werke mit einer Kombination aus technischer Virtuosität und emotionaler Tiefe interpretierte. Jedes Mitglied des Orchesters trug mit seinem individuellen Können und seiner Leidenschaft zum Gesamtklangkörper bei. Es war nicht zu fassen, wie hingebungsvoll dieses schwere Werkvorgetragen wurde. Die starken Streicher, die vielfarbigen Holzbläser, die sonoren Blechbläser und dann das üppige Schlagzeug gaben sich völlig Mahlers Musik hin. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks demonstrierte, dass es in Sachen Mahler Deutschlands bestes Orchester ist. Unter der wissenden Leitung von Sir Simon Rattle entfaltete das Ensemble eine Klangfülle und Dynamik auf höchstem Niveau. Ein forderndes Werk für die Ausführenden wie für das Publikum. Rattle stand während des ganzen Vortrags unter Strom, war im Feuer der Begeisterung für dieses Werk höchst präzise und fand eine perfekte Balance zwischen Emphase und Kontemplation. Das war Mahlers Kosmos ohne Wenn und Aber: schroff, wild, kantig, ebenso voller Liebe und Innigkeit. Seine Klangvorstellungen, die weit bis in die Extreme ausgereizte Dynamik, die wissende Agogik und die treffsicheren Tempi ergaben in Summe eine Sternstunde für alle Freunde der Musik von Gustav Mahler. Ein letzter Aufschrei im Orchester, wie eine niedersausende Guillotine, zum letzten Mal hämmerten die Pauken ihren unerbittlichen Rhythmus der Vernichtung. Danach Dunkelheit und Stille. Ein deutliches „Danke“ vom Bühnenrang, und dann feierte ein glückliches, erschöpftes Publikum die Künstler mit Ovationen. Ein großer Konzertabend!

Dirk Schauß, 23. April 2024


Konzert
Alte Oper Frankfurt

21. April 2024

Lester Lynch, Bariton
Sir Simon Rattle, Leitung
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks