Hierzulande nahezu unbekannt ist der afroamerikanische Komponist George Walker, der ein reiches kompositorisches Schaffen in seinen knapp einhundert Lebensjahren hinterließ. Der 2018 verstorbene Walker studierte u.a. bei Nadia Boulanger und Robert Casadesus Komposition. Neben zahlreichen Orchesterwerken schrieb er viel Kammer- und Vokalmusik.
Mit der kurzen knapp vierminütigen Komposition „Icarus in Orbit“ begann das aktuelle Konzert des hr-Sinfonieorchesters unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Hugh Wolff. In dieser kurzen Zeit entfaltet Walker ein intensives Hörpanorama in bunten Klangvaleurs. Hugh Wolff gestaltete dieses Werk mit präziser Gestik und suggestiver Ausgestaltung. Sein ehemaliges Orchester folgte jedem seiner Impulse mit größter Spiellaune und fein austarierter Klangqualität.
In den Wirren des zweiten Weltkriegs (1939) schrieb der betont pazifistische Komponist Benjamin Britten sein einziges Violinkonzert, welches er 1951 nochmals einer Überarbeitung unterzog. Abfallende Quarten und ein markantes Paukensolo erinnern zuweilen an andere Kompositionen, wie etwa Beethovens Violinkonzert und geben Brittens Komposition markante Gestalt. Britten war stolz auf sein Werk und meinte mit leiser Ironie, dass es darin „einige Melodien“ gäbe. Aber die spielerischen Anforderungen! Sie sind horrend! Es sagt viel über den spieltechnischen Anspruch des Soloparts, wenn einer der größten Geiger des 20. Jahrhunderts, Jascha Heifetz, es kurzerhand für unspielbar erklärte und es daher nie aufführte. Tempi passati! Inzwischen gibt es doch viele Aufnahmen dieses Violinkonzertes und eine ganze Reihe besonders begabter Virtuosen, die es sich zu eigen machten.
Das Frankfurter Publikum konnte die deutsche Geigerin Carolin Widmann bewundern. Die Schwester des bekannten zeitgenössischen Komponisten Jörg Widmann, weist eine beachtliche Karriere vor. Viele bekannte Dirigenten und Orchester musizierten mit ihr. Sie engagiert sich für zeitgenössische Musik, so dass einige Komponisten für sie schrieben. Seit 2006 ist Widmann zudem Professorin in Leipzig. Sie spielt auf einem edlen Instrument von Guadagnini aus dem Jahr 1782.
Es war schon eine mehrfach faszinierende Begegnung mit diesem Violinkonzert, bei dem so vieles anders ist. Der erste und dritte Satz sind langsam, hingegen der Mittelsatz schnell. Mit höchster klanglicher Intensität und feinster Dynamik gab Carolin Widmann dem Werk alles, um es zu bester Wirkung zu bringen. Mit sehnendem Tonfall, dabei stets edel und sonor tönend, verschmolz Widman mit dieser Komposition zu einem einzigen Klanggebilde. Der Dialog geriet berückend und extrem aussagestark. Gerade Brittens Violinkonzert benötigt eine persönlichkeitsorientierte Interpretation voller Energie, Stärke und immenser Virtuosität. All dies stand Carolin Widmann überreich zu Gebote. Mit Hugh Wolff am Pult hatte sie einen idealen Partner an ihrer Seite. Mit größter Präzision und sensiblem Klangsinn ließ er Brittens Partitur in allen Farben schillern. Der Orchestersatz weist große dynamische Bandbreite bis hin zu gewaltigen Ausbrüchen auf, die an Brittens große Oper „Billy Budd“ erinnern. Das hr-Sinfonieorchester klang den ganzen Abend wie ausgewechselt. Selten war der Klangkörper derart engagiert und klang-charakteristisch zu erleben wie unter der Leitung seines ehemaligen Chef-Dirigenten. Ein Fest. Groß war die Begeisterung im Publikum. Carlon Widmann bedankte sich mit einer Zugabe von Eugène-Auguste Ysaÿe.
In der Zeit des ersten Weltkrieges schrieb der englische Komponist Gustav Holst seine groß angelegte Orchester-Suite „The Planets“. Die zwischen 1914-1916 entstandene Komposition war ursprünglich für zwei Klaviere vorgesehen. Der große englische Dirigent Sir Adrian Boult motivierte Holst, einige seiner Klavierkompositionen zu orchestrieren. Und so kam es dann 1918 zur von Boult dirigierten orchestralen Uraufführung. Wohl kaum ein spätromantisches Werk hat die spätere Filmmusik derart stark beeinflusst wie dieses Stück. Die großformatigen Klangspektren sorgten von jeher für starke Begeisterung. Sieben Planeten unseres Sonnensystems beschreibt Holst in seiner Komposition. Von extremer Düsternis und stampfender Brutalität ist der Beginn mit dem Planeten Mars, dem Überbringer des Krieges. Maschinenartige Rhythmen, die in einer schwarzen Apokalypse enden. Extrem dann der Kontrast zum anschließenden Planeten Venus, dem Friedensbringer. Ein elegisches Hornsolo im Dialog mit feinsten Holzbläserfärbungen schafft eine kontemplative Stimmung. Mit Merkur, dem geflügelten Boten, gibt es dann einen geschwinden Ritt durch alle Orchesterfarben in breitem dynamischen Panorama. Der Überbringer der Fröhlichkeit tritt dann in Form des Planeten Jupiters vor die Zuhörer. Sicherlich der beliebteste Planet, der mit seiner hymnischen Hauptmelodie im Mittelteil stark an den von Holst verehrten Komponisten Edward Elgar denken lässt. Dann wieder ein Farbwechsel, denn mit Saturn begegnet uns der Überbringer des Alters und damit eine weiträumige kosmische Klangwelt. Kaum größer könnte der Kontrast sein, wenn Uranus, der Magier, ertönt. Gewaltige Fanfaren im Blech, bizarre Rhythmen und drastische Schlagzeugeffekte münden in einem wilden Tanz, der mitunter deutlich an den „Zauberlehrling“ von Paul Dukas denken lässt. Mit dem beschließenden Neptun wird das riesige Orchester klanglich durch einen sechsstimmigen Frauenchor ergänzt, der in wiederkehrenden Vokalisen die Endlosigkeit des Alls trefflich imaginiert.
Dirigent Hugh Wolff hatte mit diesem Werk eine Steilvorlage, um sein großes Können wieder nach Frankfurt zu bringen. Wie ein Bildhauer der Klänge gestaltete Wolff die Reise ins All. Das Ergebnis war eine überragende Darbietung des Meisterwerks der galaktischen Sonderklasse! Bereits der anfängliche Rhythmus des Mars wirkte brutal, eine fortwährend stampfende Kriegsmaschine. Die Ausbrüche im Fortissimo wirkten apokalyptisch und wirklich vernichtend. Überlegen war Wolffs Timing und seine genau Ausbalancierung in den einzelnen Orchestergruppen. Die spieltechnischen Anforderungen des Werks sind immens und ließen einst große Dirigenten, wie Leonard Bernstein verzweifeln, der den quirligen „Merkur“ für kaum spielbar erachtete. Davon war in der überlegenen Ausführung des hr-Sinfonieorchesters nichts zu bemerken. Herrlich die große Geste mit ehrlichem Pathos in dem berührend ausgesungenen Horn-Choral des „Jupiters“. Faszinierend eindringlich geriet der mystische „Saturn“, während Wolff beim „Uranus“ das Orchester komplett von der Leine ließ. Umso größer war dann der Kontrast im finalen sehr verinnerlicht vorgetragenen „Neptun“, bei welchem das von Tilman Michael einstudierte Damen-Vokalensemble intonationssicher trefflich unterstützte.
An diesem Abend war das hr-Sinfonieorchester auf der Höhe seiner Möglichkeiten zu erleben. Kurz gefasst: es stimmte alles. Keine Schwachstelle. Das riesige Orchester begeisterte mit mitreißendem vollen Tutti-Klang und filigranen Piano-Färbungen. Im Zusammenspiel mit Celesta, Harfe und Glockenspiel funkelte der Klangraum wie ein Sternenmeer. Herausragende Solo-Beiträge des Orchesters im Verein mit der wunderbar zum Einsatz gekommenen spielerischen Kreativität bescherten den begeisterten Zuhörern ein Konzert der Extraklasse, welches es mit diesem Orchester lange nicht gab.
Thank you, Hugh Wolff! Come back soon!
Andauernder Jubel eines euphorisierten Publikums.
Dirk Schauß, 11. Februar 2023
Alte Oper Frankfurt
10. Februar 2023
George Walker – Icarus in Orbit
Benjamin Britten – Violinkonzert d-moll, op. 1
Gustav Holst – The Planets op. 32
Solistin: Carolin Widmann, Violine
hr-Sinfonieorchester
Dirigent: Hugh Wolff