Heidelberg: „La Traviata“

Premiere: 12. 10. 2014

Autobiographische Bezüge

Sie gehört zu den beliebtesten und meistgespielten Opern: Verdis „La Traviata“, die derzeit wieder Hochkonjunktur hat. Zahlreiche deutsche Opernhäuser haben sie in dieser Spielzeit wieder in ihr Programm aufgenommen. So auch das Theater der Stadt Heidelberg, an dem Eva-Maria Höckmayr ihre bahnbrechende Neudeutung zur Diskussion stellte und bei dem zahlreich erschienenen Publikum dann auch auf einhellige Zustimmung stieß. Der Schlussapplaus war sehr herzlich. Und das zu Recht. Ihre Inszenierung weist einige bemerkenswerte neue Aspekte auf, die die Rezeptionsgeschichte der „Traviata“ erheblich voranbringen.

Jesus Garcia (Alfredo), Chor, Extrachor, Statisterie

Ausgangspunkt ist für sie der im Jahre 1848 erstmals veröffentlichte Roman „Die Kameliendame“ (im Original „La dame aux camélias“) aus der Feder von Alexandre Dumas d. J. sowie dessen auf der Grundlage des Buches am 2. 2. 1852 im Pariser Vaudeville-Theater aus der Taufe gehobenes Bühnendrama gleichen Namens. Sowohl die Erzählung als auch das Theaterstück weisen autobiographische Züge auf und schildern das Zusammentreffen des damals 20jährigen Dumas unter dem fiktiven Namen Armand mit der damals hochberühmten Pariser Kurtisane Marie Duplessis, die hier den Namen Marguerite trägt. Das Publikum wusste dennoch, wen er damit meinte. Hier war noch vieles anders als in der 1853 in Venedig uraufgeführten Oper Verdis. Dumas erzählt die Geschichte aus seinem eigenen Blickwinkel heraus in Form einer Selbststilisierung und verklärt die Liebesbeziehung zwischen Armand und Marguerite, die er als große tragische Liebe darstellt. Diese ließ er letztlich nicht nur an der Schwindsucht der Geliebten, sondern insbesondere auch an den rigiden Ansprüchen der durch Armands Vater verkörperten gesellschaftlichen Moral scheitern. Ein Landaufenthalt des Paares existiert weder im Roman noch im Schauspiel. Diesen hat erst Verdi für seine „Traviata“ dazuerfunden, wobei auch seitens des Komponisten autobiographische Züge eingeflossen sein dürften. Seit 1847 lebte Verdi mit der Sängerin Giuseppina Strepponi unter dem kritischen Blick der Öffentlichkeit in wilder Ehe auf seinem Landgut Sant’ Agata zusammen und wollte durch diesen Zusatz wohl nicht zuletzt auf seine eigene Situation hinweisen. Neben Dumas/Armand wurde auch er ein Teil der Opernfigur Alfredo.

Jesus Garcia (Alfredo), Rinnat Moriah (Violetta))

Indes ist es nicht Verdi, dem Frau Höckmayrs Aufmerksamkeit gilt, sondern allein Dumas. Gleich dem Sohn des berühmten „Musketier“-Autors, der in der „Kameliendame“ die Beziehung zu Marie Duplessis, von der er sich schließlich aus finanziellen Gründen trennte, zu verarbeiten versucht, schildert sie das Ganze aus der Perspektive Alfredos, den sie in psychologisch einfühlsamer Weise mit Dumas identifiziert. Hier steht ausnahmsweise mal nicht die Perspektive Violettas im Vordergrund, wie es in den meisten anderen Produktionen des Werkes der Fall ist, sondern die von Alfredo/Dumas. Nicht die weibliche Betrachtungsweise dominiert das Geschehen, sondern die männliche. Und diese wird von einem mangelnden Selbstwertgefühl des jungen Germont geprägt. Dumas’ im Roman zu Tage tretendes Bestreben, sich als Armand aus dem Schatten des übermächtigen Vaters zu lösen und ein unabhängiges Selbstbild von sich zu zeichnen, greift die Regisseurin geschickt auf und überträgt es in überzeugender Art und Weise auf Alfredo. Fast ständig auf der Bühne ist er durchweg darum bemüht, dem gesellschaftlichen Abseits, in das er gestoßen wurde, zu entrinnen und von der Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Dabei wird sein Handeln nicht von Liebe geleitet, sondern von purer Berechnung. Violetta ist für ihn unter diesen Voraussetzungen nur ein Mittel zum Zweck, um endlich die ersehnte Anerkennung zu erlangen. Eindringlich und prägnant rechnet Eva-Maria Höckmayr mit dem Egomanen Dumas ab, dessen mit Buch und Stück verfolgte wahre Ziele sie eindringlich beleuchtet.

Rinnat Moriah (Violetta), Jesus Garcia (Alfredo), Chor, Extrachor

Dabei geht sie technisch sehr versiert vor. Eine Meisterin in Sachen spannender, ausgefeilter Personenregie ist sie schon immer gewesen. Da bildet ihre bravourös umgesetzte „Traviata“ wahrlich keine Ausnahme. Sie ist eine Regisseurin, die ihr Handwerk ausgezeichnet versteht. Das erweist sich nicht zuletzt auch hier wieder an ihrem trefflichem Umgang mit verschiedenen, parallel ablaufenden Handlungsebenen. Dieses Stilprinzip, das sie öfters für ihre Regiearbeiten heranzieht – zuletzt bei ihrer Frankfurter Inszenierung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ – und das auch an diesem Abend reichhaltig gepflegt wurde, ist typisch für sie, gleichzeitig aber auch beredter Ausdruck einer ganz eigenen Regiesprache mit psychologischen Einschlägen. Hier wartet sie mit zwei zusätzlichen Ebenen auf, wobei sie auch dieses Mal den Handlungsträgern wieder stumme Alter Egos an die Seite stellt. Auch das ist bei ihr nichts Neues mehr. Das Ganze spielt sich in einem von Julia Röscher – von ihr stammen auch die gelungenen Kostüme – geschaffenen Theater auf dem Theater ab, auf dem bereits während der Ouvertüre eine Aufführung von Dumas’ Stück „Die Kameliendame“ zu Ende geht, die Schauspieler sich vor einem in Hintergrund der Bühne platzierten Bühnen-Publikum verbeugen und dann in Privatkleidung ihrer eigenen Wege gehen.

Jesus Garcia (Alfredo), Rinnat Moriah (Violetta), Chor. Extrachor)

Violetta erfährt eine Spaltung. Mal im kargen grauen Mantel, mal im weißen Unterkleid auftretend korrespondiert sie mit der Schauspielerin im prächtigen roten Abendkleid, die ihr Leben auf der Bühne darstellt. Dass dieses in Alfredos/Dumas Stück aber auf recht selbstsüchtige Weise manipuliert wurde, erkennt sie und geht auf Distanz zu ihm. Demgemäß zeigt die Regisseurin auch keine echte Liebesgeschichte. Sie sieht Alfredo und Traviata an keiner Stelle als echtes Liebespaar und lässt die beiden ihr Verhältnis nicht ausleben. Ihre Beziehung ist in hohem Maße gestört. Das erkennt auch Violetta, die sich dann prompt mit Germont gegen dessen Sohn verbündet. Die nur scheinbare Familienidylle der Germonts, in der der nicht gerade sympathisch gezeichnete Vater mit eiserner Hand regiert und in der Alfredo und seine Schwester noch Kinder sind, scheint während des Duetts der beiden Konspiranten hinter einer Glaswand im Hintergrund auf. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass die Protagonistin sich am Ende nur noch ausgenutzt vorkommt und kurz vor ihrem Tod nun ihrerseits zum Mittel der Selbststilisierung greift. Es ist ein sehr fragwürdiges Erbe, das sie Alfredo/Dumas mit ihrem Bild, das er seiner künftigen Frau geben soll, hinterlässt. Diese potentielle Ehe soll stets durch die Erinnerung an sie getrübt und damit nicht glücklich werden. So wird sich seine die ganze Zeit über an den Tag gelegte große Ichbezogenheit eines Tages rächen. Mit dieser Abrechnung hat Traviata ihre Funktion erfüllt. Sie stirbt lediglich einen symbolischen Tod und verlässt die Bühne. Das war alles sehr überzeugend und hervorragend umgesetzt. Aber dass Frau Höckmayr eine Meisterin in ihrem Fach ist, hat man ja schon lange gewusst. Was sie an diesem Abend präsentierte, war Musiktheater vom Feinsten, das ohne Zweifel in die Annalen des Heidelberger Theaters, das eine der ersten Adressen im deutschen Opernbetrieb darstellt, eingehen wird.

James Homann (Germont), Baron Douphol, Jesus Garcia (Alfredo), Rinnat Moriah (Violetta)

Nicht minder prachtvoll war das bei der Premiere aufgebotene Ensemble. Dessen bis in die kleinsten Rollen fast durchweg ausgezeichnetes Niveau belegt, dass Operndirektor Heribert Germeshausen ein hervorragendes Ohr für Stimmen besitzt. Leider hatte an diesem Abend der Krankheitsteufel zugeschlagen und die ursprünglich für die Violetta vorgesehene Irina Simmes mattgesetzt. Als Ersatz stand die Zweitbesetzung Rinnat Moriah zur Verfügung, die dann auch eine ansprechende Leistung erbrachte. Nach einer kleinen Anlaufzeit, die sie benötigte, um stimmlich warm zu werden, beglückte sie durch eine differenzierte, nuancenreiche und von subtilen Zwischentönen geprägte gesangliche Leistung. Eine beachtliche Pianokultur war die Grundlage ihres recht emotionalen Ausdrucks, der mit der einfühlsamen darstellerischen Leistung Hand in Hand ging. Bei den Spitzentönen des „Sempre libera“ ging sie indes noch etwas vorsichtig ans Werk. Das hohe es hat man von anderen Interpretinnen der Rolle schon kräftiger gehört. Neben ihr erwies sich Jesus Garcia als Idealbesetzung für den Alfredo. Mit edel klingendem, kräftigem und substanzreichem, dabei wunderbar südländisch fokussiertem, frei und elegant dahinströmendem Tenor empfahl er sich nachhaltig für größere Bühnen und sang sich zu Recht in die Herzen des begeisterten Auditoriums. Seinen beiden Mitstreitern in den Hauptrollen stand der Germont von James Homann in Nichts nach. Mit seinem profunden, in jeder Lage voll und klangvoll ansprechenden Bariton, dem er neben recht autoritär anmutenden auch ausgesprochen weiche, leise und geschmeidige Töne zu entlocken wusste, gab der Sänger seiner Rolle stimmlich die Huld, die ihr äußerlich von der Regie verweigert wurde. Derzeit begegnet man immer mehr Sängern, die den Gaston schön im Körper singen. Sang-Hoon Lee ist einer davon. Kräftiges Bass-Material brachte Zachary Wilson, der für den gleich Frau Simmes erkrankten Ipca Ramanovic eingesprungen war, für den Baron Douphol mit. Tadellos sang Michael Zahn den Marquis d’ Obigny. Solide vokale Leistungen erbrachten Amélie Saadia und Irida Herri in den kleinen Partien von Flora und Annina. Den einzigen vokalen Schwachpunkt des Abends bildete David Otto, der den Dr. Grenvil ziemlich im Hals sang. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Anna Töller bestens einstudierte Chor.

Ungetrübte Freude bereiteten auch Dirigent und Orchester. Lahav Shani setzte im Graben einen trefflichen Kontrapunkt zu dem dramatischen Geschehen auf der Bühne und lotete Verdis herrliche Musik zusammen mit dem Philharmonischen Orchester Heidelberg vorzüglich aus. Sein vielschichtiges Dirigat zeichnete sich durch gute Italianita, wunderbar lang gesponnene und gefühlvolle Bögen sowie einen großen Farbenreichtum aus. Den Sängern war er ein umsichtiger Partner.

Fazit: Erneut eine regelrecht preisverdächtige Produktion, zu der man dem Theater der Stadt Heidelberg und allen Beteiligten nur aufs Herzlichste gratulieren kann. Hier haben wir es mit einer der besten Umsetzungen des Werkes in letzter Zeit zu tun. Der Besuch der Aufführung wird dringend empfohlen!

Ludwig Steinbach, 13. 10. 2014

Die Bilder stammen von Annemone Taake