Karlsruhe: „Hoffmanns Erzählungen“, Jacques Offenbach

© Felix Grünschloß

Kein anderes Werk der Opernliteratur dürfte eine derart verworrene Rezeptionsgeschichte aufweisen wie Offenbachs fünfaktige Oper Hoffmanns Erzählungen, im Original Les contes d’ Hoffmann. Dem Komponisten war es verwehrt, sein Werk zu vollenden, er starb am 5. Oktober 1880. Zu diesem Zeitpunkt lag der Hoffmann lediglich in Form eines Torsos vor. Die Orchestrierung war unvollendet und von dem fünften Akt existierten nur Skizzen. Die am 10. Februar 1881 erfolgte Uraufführung an der Opéra comique in Paris war unter diesen Bedingungen nur in einer sehr rudimentären Bearbeitung möglich. Sie stammte aus der Feder von Ernst Guirand und hielt sich viele Jahre auf den Spielplänen der verschiedenen Opernhäuser. Es mutet schon reichlich seltsam an, wie es dem Werk gelang, in einer derart fragwürdigen, zerstückelten Form zu Weltruhm zu gelangen. In den 1970er Jahren ist schließlich immer mehr von dem verschollenen Kompositions-Material ans Tageslicht gekommen, sodass irgendwann eine kritische Neuedition des Hoffmann möglich wurde. Aber auch dieser haftete noch der Stempel der Unvollkommenheit an. Nun sind bis in unsere Tage zahlreiche weitere Originalquellen aus der Hand Offenbachs aufgetaucht. Die Folge davon war, dass heute immerhin vier Fassungen des Stückes existieren, unter denen die das Werk aufführenden Opernhäuser sich eine aussuchen können. Und die Nachforschungen laufen immer noch. Am authentischsten ist sicher die Ausgabe von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck, die alle Handschriften Offenbachs sowie die Sekundärquellen auf dem aktuellen Forschungsstand berücksichtigt (vgl. Programmheft S.14) und die auch der Karlsruher Produktion zugrunde liegt. Diese Wahl erschien gut. Hier hörte man viel Ungewohntes. Insbesondere hatte die sonst stumme Stella auch zu singen.

© Felix Grünschloß

Gelungen war die Inszenierung von Floris Visser, für die Gideon Davey das Bühnenbild und Dieuweke van Reij die Kostüme beisteuerte. Für den Regisseur ist die Handlung ein Künstlerdrama. Der Gegensatz von Kunst und Leben steht für ihn im Vordergrund. Bezeichnend ist dabei seine Erkenntnis, dass Kunst ohne das Leben nicht entstehen kann (vgl. Programmheft S. 8). Hoffmann erfindet Olympia, Antonia und Giulietta, um anhand dieser drei Frauenfiguren seine gescheiterte Beziehung zu der Maria Callas nachempfundenen Stella zu verarbeiten. Die drei Frauen stellen gerade die drei Eigenschaften Stellas dar, mit denen Hoffmann nicht zurechtkommt. Er spaltet sie in drei Teile auf, weil er ihr Gesamtbild nicht fassen kann. Der Olympia-Akt ist in den Augen des Regisseurs eine Komödie, bei der die Sexualität Stellas in der Puppe beleuchtet wird. Um Künstlertum und Emotionalität der Sängerin geht es im Antonia-Akt, den Visser als Tragödie begreift. Stellas Hurenseite und ihre Intrigen prägen den Giulietta-Akt. Im vierten Akt trifft der Dichter noch einmal auf alle seine drei Geliebten. Während seiner Erzählungen schimmert dabei immer wieder Stella durch, der Visser stets aufs Neue stumme Aufritte gönnt und auf diese Weise sein Wissen um Tschechow‘ sche Elemente nachhaltig unter Beweis stellt. Gekonnt betrachtet er das Ganze durch die scharfe Brille des Psychoanalytikers. Sigmund Freud lässt grüßen. Bei ihm reichen sich innerpsychische Konflikte und reale Personen die Hand. Das geht so weit, dass es Hoffmann am Ende unmöglich wird, zwischen Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden. Manipuliert er seine Figuren oder manipulieren sie ihn (vgl. Programmheft S. 9)? Dieser Punkt bleibt in der Schwebe. Die Mischung aus Wirklichkeit und Fiktion wird immer verworrener. Ein wesentlicher Punkt des Regiekonzepts besteht darin, dass Hoffmann mit seinen Werken keinen Erfolg hat, sie schließlich sogar vernichten will, und sich aus diesem Grund in den Alkohol flüchtet. Erst am Ende, als er sich mit Hilfe der nun als griechische Göttin erscheinenden Muse erfolgreich von Stella gelöst hat, ist er fähig, ein echtes literarisches Kunstwerk zu schaffen. Damit hat die Muse in ihrem Kampf mit Stella unzweifelhaft den Sieg errungen.

© Felix Grünschloß

Bühnenbildnerisch ist das Ganze ebenfalls geschickt gelöst. Hoffmann erzählt seine Geschichte in einem Bistro der 1960er Jahre, in der sich gerade die Studentenrevolten ausbreiteten. Studenten und Opernbesucher treffen bei Luther aufeinander. Schließlich gab es damals noch keine Theatergastronomie. Auf der rechten Seite des Bistros erblickt man einen Schrank mit zahlreichen geistigen Getränken. Der linke Bereich der Bühne wird von einem riesigen, durchsichtigen Spiegel dominiert, der immer wieder zu einem Theater auf dem Theater mutiert, wofür Bertolt Brecht Pate gestanden hat. Aus ihm heraus haben die drei zuerst noch in trauter Eintracht zusammenstehenden, leicht bekleideten Geliebten Hoffmanns ihre jeweiligen Auftritte. Im Folgenden ändert sich die Grundstruktur des Raumes nicht. Die Handlungsträger befinden sich durchweg in Luthers Bistro. Nur die Einrichtung variiert. So beinhaltet im zweiten Akt das Regal eine Menge in Gläsern aufbewahrte Augen. Bezeichnend ist, dass Coppelius dem verliebten Hoffmann hier einen Augencocktail mixt. Links erschließt sich dem Blick eine Tafel, auf die Spalanzani mit Kreide eine Menge physikalischer Formeln geschrieben hat. Im Antonia-Akt beinhaltet das Regal zahlreiche Notenbücher sowie eine Beethoven-Büste. Einige Geigen liegen herum, deren Seele der Rat Crespel zu ergründen sucht. Der Spiegel gibt nun den Blick frei in ein Studio, in dem Antonias Mutter mit ihren Musikern eine Aufnahme macht. Interessant ist der Regieeinfall, dass die Mutter früher mit Dr. Mirakel ein Verhältnis hatte. Im vierten Akt gibt es keine großen bildlichen Änderungen. Hier will Hoffmann der Liebe entsagen und nur noch Sex. Indes bringt Giulietta ihn dazu, sich doch noch einmal zu verlieben. Der Giulietta-Akt mündet in eine große Operation, in dem einem Double der Titelfigur das Herz entfernt wird. Mit dem Herz hat Hoffmann auch seine Seele verloren. Nach der Tötung Schlemihls und Pitichinaccios wird er, tief gebrochen, von Polizisten abgeführt. Wie er diesen wieder entkommen ist, verrät die Inszenierung nicht. Am Ende des 5. Aktes sitzt der seine Kreativität wieder erlangte Hoffmann rege tippend an der Schreibmaschine, während die anderen Beteiligten links im Spiegel platziert sind. Das war alles trefflich durchdacht und mit Hilfe einer flüssigen, stringenten Personenregie auch spannend auf die Bühne gebracht.

Eine gute Leistung erbrachte Sebastian Schwab am Pult, der die gut disponierte Badische Staatskapelle zu einem tiefgründigen, emotionalen und farbenriechen Spiel animierte, wobei er auch ein Auge für eine vorbildliche Transparenz hatte. Die Tempi waren ausgewogen und die Sänger wurden an keiner Stelle zugedeckt.

© Felix Grünschloß

Zum großen Teil zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Mirko Roschkowski warf sich mit enormer Intensität in die Partie des Hoffmann, die er nicht nur ansprechend spielte, sondern mit seinem virilen, kraftvollen und perfekt sitzenden Spinto-Tenor auch grandios sang. Für Lindorf, Coppelius, Mirakel und Dapertutto brachte Ks. Konstantin Gorny einen sonoren und ebenmäßig dahinfliessenden Bass mit. Mit einem ebenmäßig geführten, warmen und emotionalen Mezzosopran stattete Florence Losseau die Muse aus. Ein wahres Feuerwerk an funkensprühenden Koloraturen und bis in stratosphärische Höhen hinaufreichende sichere Spitzentöne zeichneten die Olympia von Danae Kontora aus. Wunderbar innig und gefühlvoll klingendes lyrisches Sopran-Material brachte Ks. Ina Schlingensiepen in die Partie der Antonia ein. Mit trefflich fokussiertem, kräftigem Sopran sang Ks. Barbara Dobrzanska die Giulietta. Mit der Stella hat die junge Mezzosopranistin Dorothea Spilger nach der Fremden Fürstin in Rusalka einen zweiten Schritt in das jugendlich-dramatische Sopranfach gemacht und diese Herausforderung mit Bravour bestanden. Leider war ihre Rolle nicht allzu groß. Von dieser hervorragenden, mit einer herrlichen italienischen Technik gesegneten Sängerin hätte man gerne mehr gehört. Sehr charaktervoll in die Maske und insgesamt recht dünn sang Merlin Wagner die vier Dienerrollen Andres, Cochenille, Franz und Pitichinaccio. Ein stimmlich solider Spalanzani war KS. Klaus Schneider. Einen vorbildlich italienisch fundierten, profunden Bass brachte Liangliang Zhao für den Luther mit. Als Stimme der Mutter hinterließ Christina Niessen mit ausdrucksstarkem Stimmklang einen bleibenden Eindruck. Abgerundet wurde das Ensemble durch Christian Noel Bauer (Schlemihl, Hermann), Wei Liu (Nathanael), Ogulcan Yilmaz (Wilhelm) und Cheng Li (Wolfram), die indes fast durchweg nur mittelmäßig anmuteten. Den Hauptmann der Sbirren gab Lukasz Ziolkiewicz. Eine großartige Leistung ist dem von Ulrich Wagner perfekt einstudierten Badischen Staatsopernchor zu bescheinigen.

Ludwig Steinbach, 21. Mai 2024


Hoffmanns Erzählungen
Jacques Offenbach

Badisches Staatstheater Karlsruhe

Premiere: 8. Juni 2019
Besuchte Aufführung: 19. Mai 2024

Inszenierung: Floris Visser
Musikalische Leitung: Sebastian Schwab
Badische Staatskapelle