Besuchte Aufführung: 2.7.2017 (Premiere: 10.6.2017)
Selbstfindung und Generationenkonflikt in der Rumpelkammer
Vorhang auf zum Scherzo. Mit Aplomb ging die Neuproduktion von Wagners „Ring des Nibelungen“ am Staatstheater Karlsruhe in die dritte Runde. In alter Stuttgarter Manier haben sich in Karlsruhe vier unterschiedliche Regisseure der Tetralogie angenommen. Dieses Mal lag die Regie in den Händen von Thorleifur Örn Arnarsson. Für das Bühnenbild zeigte Vytautas Narbutas verantwortlich, die Kostüme und die Videosequenzen besorgte Sunneva Asa Weisshappel.
Erik Fenton (Siegfried)
Mit seinem Konzept knüpft der isländische Regisseur an die alten Edda-Sagen seiner Heimat an. Es sind mächtige Bilder, die sich dem Auge bieten. Das Einheitsbühnenbild stellt eine Rumpelkammer mit Reichstagskuppel dar. Hier liegt allerhand Gerümpel herum. So erblickt man Ritterrüstungen, antike Statuen, ein Spinnrad, Büsten, einen Holzofen, einen Leiterwagen, Vitrinen und Gemälde. Aus einer Standuhr heraus erfolgt im Waldweben der Auftritt des wie Papageno gewandeten Hornisten Dominik Zinsstag. Alberich entsteigt einem Kühlschrank. Mime tritt aus einem Gulli auf. Nachdem er durch seinen eigenen Giftrank umgekommen ist, wird seine Leiche von Siegfried auch in diesen entsorgt. Zudem gibt es noch einen Tisch mit einem Schachspiel, dem sich die Beteiligten manchmal widmen. Insbesondere die wie Orks gekleideten Nibelungen-Brüder – ein guter Einfall – bestreiten im zweiten Aufzug eine ausgedehnte Schachpartie um die Macht. Beim Schmieden des Schwerts steht Siegfried hinter einer Tonne und bedient den Blasebalg.
Auf einer Balustrade liegt von Anfang an das Gerippe des Drachen, durch das man den Sänger des Fafner nur undeutlich sieht. Beim Kampf mit dem Wurm erklimmt Siegfried eine Treppe und sticht mit Notung von unten in den Leib des Skeletts. Von dem Geländer aus blicken Wotans Raben hinunter auf die Rumpelkammer. Sie sind von ihrem Herrn zum Spionieren ausgesandt. Der Wanderer tritt als Zauberer Gandalf aus dem „Herrn der Ringe“ bei Mime ein. Zauberhut, langer Bart und grauer Mantel sind jedoch nur Kostüm und Maske Wotans, der als Schauspieler durch die Welt zieht. Während der Wissenswette tritt er immer wieder gegen die Schwertstücke und versucht Mime auf diese Weise zur richtigen Frage zu bringen. Dies allerdings erfolglos. Wenn der Göttervater gerade nichts auf der Bühne zu tun hat, sitzt er in moderner Kleidung in einer rechts neben dem Orchestergraben eingerichteten Überwachungszentrale und beobachtet über zahlreiche Monitore das Geschehen. Big Brother Wotan ist watching you. Sein allsehendes Auge wird des öfteren auf den Hintergrund projiziert. Er ist allerdings nicht nur der passive Beobachter, sondern wird durchaus auch noch aktiv tätig.
Renatus Meszar (Wanderer), Statisterie
Gemäß dem Charakter des „Siegfried“ als Scherzo des „Rings“ wartet Arnarsson auch mit heiteren Aspekten auf. Die beginnen schon bei Siegfried, der recht ungehobelt wirkt und ständig das Kostüm wechselt. Mal ist er Supermann, mal ein diffus angeleuchtetes Skelett. Ein Höhepunkt der Aufführung ist die Szene, in der er mit Hilfe eines alten, verstimmten Klaviers, auf dem eine Wagner-Büste steht, mit dem Waldvogel Kontakt aufnehmen will. Hier gibt es mehre Vögel in Gestalt von vom Schnürboden herabschwebenden hübschen Mädchen. Herrlich wie sie sich die Ohren zuhalten, als sie Siegfrieds Geklimper nicht mehr ertragen können. Am Ende des zweiten Aufzugs überreicht die Vogel-Maid Siegfried Wagners Partitur. Der Held, der sich sein Leben selbst gestalten wollte, muss nun erkennen, dass seine Geschichte von jemandem anderen stammt, den er nicht kennt. Da mitzumachen hat er aber überhaupt keine Lust. Er steht gegen die Fremdbestimmtheit auf und geht auf die Suche nach sich selbst. Die von ihm angestrebte Selbstfindung ist das zentrale geistige Element von Arnarssons Regiearbeit. Im dritten Aufzug reißt er dem Wanderer sein Gandalf-Kostüm vom Leib und bespritzt ihn mit Wasser, bevor er schließlich noch den Speer über seinem Knie zerbricht. Die Speerspitze behält er. Respekt hat er überhaupt keinen. Eindringlich wird hier – und auch in Siegfrieds Verhältnis zu Mime – ein Generationenkonflikt geschildert. Nachhaltig prallen alte und neue Zeit aufeinander, wobei die alte unterliegt. Während der ganzen Zeit macht der Waldvogel mit seiner Handy-Kamera eifrig Photos von Siegfried.
Katharine Tier (Erda)
Recht gefühlvoll ist Wotans Begegnung mit Erda inszeniert. Die Ur-Wala ist in Begleitung zweier Nornen. Wo ist die dritte Norn? Sie ist nirgends zu sehen. Am Ende der Szene geht Erda nicht ab, sondern beobachtet die Auseinandersetzung zwischen dem Göttervater und seinem Enkel. Mit Tschechow’schen Elementen kann der Regisseur umgehen. Das wurde schon an anderer Stelle offenkundig. Zur letzten Szene schiebt Siegfried Teile der Rumpelkammer beiseite und reißt den Hintergrundprospekt ab. Von Brünnhilde ist indes nichts zu sehen. Nun wird es psychologisch. Siegfried sitzt im Vordergrund allein am Tisch und singt. Er imaginiert Brünnhilde so lange, bis die ehemalige Walküre schließlich doch noch, gleichsam im letzten Augenblick, aus der Versenkung auftaucht. Das Duett der beiden wird von allerlei Projektionen begleitet, deren Sinn sich nicht immer erschließt. Am Ende senkt sich die Balustrade wie eine Käseglocke über das neue hohe Paar. Gemeinsam sind sie gefangen. Können sie ihrem Gefängnis jemals wieder entkommen? Diese Frage wird wohl nicht beantwortet werden, denn die für Oktober 2017 anvisierte „Götterdämmerung“ liegt in den Händen eines weiteren Regisseurs.
Jaco Venter (Alberich), Renatus Meszar (Wanderer)
Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Erik Fenton war ein darstellerisch glaubhafter und gesanglich äußerst konditionsstarker Siegfried. Er verfügt über einen bestens fokussierten, differenzierungsfähigen Tenor mit volltönender Mittellage und strahlender Höhe. Die dramatischen Ausbrüche kamen genauso überzeugend wie die emotionalen, sehnsuchtsvollen Momente. Matthias Wohlbrecht war ein sehr maskig klingender, sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch recht schmieriger und hinterhältiger Mime. In dem Wanderer dürfte Renatus Meszar eine seiner besten Rollen gefunden haben. Er gestaltete seinen Part mit enormer vokaler Noblesse, großer Durchschlagskraft und feinem Nuancierungsvermögen. Jaco Venter war ein kernig und markant singender Alberich, den er auch ansprechend spielte. Mit hohen sonoren Bassqualitäten stattete Avtandil Kaspeli den Fafner aus. Einen voll und rund klingenden Mezzosopran mit profunder Tiefe und tadellosem hohem ‚gis’ nannte die Erda von Katharine Tier ihr eigen. Obwohl sie sich wegen einer Indisposition ansagen ließ, kam Heidi Melton in der Rolle der Brünnhilde gut über die Runden. An diesem Abend erwies sie sich als echte hochdramatische Sängerin mit imposanten Höhenflügen und farbiger, strahlkräftiger Mittellage. Einen tiefgründig intonierenden Waldvogel gab Uliana Alexyuk.
Eine Meisterleistung ist GMD Justin Brown und der ausgezeichnet aufspielenden Badischen Staatskapelle zu bescheinigen, Zusammen erzeugten sie einen abwechslungsreichen, dynamisch fein abgestuften und von großer Intensität und Pracht geprägten Klangteppich, der sich zudem durch viele Farben und eine hohe Gefühlsskala auszeichnete.
Fazit: Eine Aufführung, die durchaus empfohlen werden kann.
Ludwig Steinbach, 3.7.2017
Die Photos stammen von Falk von Traubenberg