München: „Turandot“

Premiere: 3.12. 2011., besuchte Vorstellung: 10.12. 2016

Reden wir von der Prinzessin, denn die ist famos

In dieser Aufführung ist sie eine Königin. Sie heißt Nina Stemme und treibt – der Opernfreund ist da ganz ehrlich – dem Zuhörer während ihrer großen und einzigen Arie die Feuchtigkeit in die Augen. Derart intensiv und stimmschön, also bei aller Lautstärke betörend unschrill, ist die Ausdruckskraft der Sopranistin, die als schwarze Witwe Tod und Trauer verkündet. Obwohl die „eisumgürtete“ Chinesin in der nach ihr betitelten Oper nur zwei „richtige“ Auftritte hat (sieht man einmal von ihrem stummen Erscheinen im ersten und ihrem fast stummen im dritten Akt ab) und zudem erst in der Mitte des zweiten Akts zu singen beginnt, konzentriert sich doch alle Spannung von Puccinis letzter, unvollendet vollendeter Oper auf ihr. Der eine „große“ Auftritt muss gelingen, wenn die Oper insgesamt gelingen soll – und mit Nina Stemme kommt er zu einem vokalen und emotionalen Höhepunkt. Kein Wunder, dass sie vom Münchner Publikum fast stärker gefeiert wurde als der Tenor mit dem – in diesem Opernfalle – sprechenden Namen Stefano La Colla. Der tartarische Prinz, Angehöriger jenes Volkes, das einst Turandots Urahnin in den Tod trieb, behält den Kragen und die stimmliche Contenance. Colla überzeugt an diesem Abend durch ein eher heldisches als lyrisches Auftreten; sein Calaf ist ein Mann aus einem wilderen Geschlecht als das der Chinesen, die noch die grausamste Hinrichtung mit gleichsam ästhetischen Mitteln zelebrieren.

Letzteres liegt natürlich am Regieteam. Die spanische Truppe „La Fura dels Baus“ ist für ihre komplexen Bühneninszenierungen bekannt, in denen sich das Drama, der Symbolismus und die Bühnen-Technik verschränken. Dabei haben die „Frettchen von Els Baus“ längst ihre ursprüngliche Wildheit abgelegt. Der Opernfreund erinnert sich an eine Produktion in einer Berliner Halle, in der die Mitglieder der verrückten Katalanen-Truppe noch mit dem Publikum kommunizierten, indem sie ihm buchstäblich mit Feuer nahekamen. Inzwischen sind die Frettchen älter geworden. An die Stelle furioser Aktionen sind circensische Bilder und artifizielle Videos (vom erfindungsreichen Franc Aleu) getreten, die das Drama – zumindest im ersten Akt – fast pausenlos akzentuieren.

Ist das nicht alles ein bisschen zu viel, wie manche Opernbesucherin meinte? Ja – und Nein. Unter der Regie von Carlos Padrissa wird zwar ein ungeheures Bühnenfeuerwerk abgefackelt, das mit seinen 3-D-Effkten (einzigartig: in der Oper die Brille aufzusetzen), seinen flimmernden und rotierenden Kreisen und Kugeln eine weitere, höchst bewegte visuelle Ebene einschaltet – aber die leidenden Menschen, zumal die Frauen, um die es Puccini vor allem ging, bleiben im Mittelpunkt des beeindruckenden wie inhaltlich motivierten Spektakels. Mit Golda Schulz als Liù hat die Aufführung eine erstrangige, nur scheinbar „kleine“ Puccini-Heldin zur Verfügung. Ihr Abschied kommt auch in München bewegend, weil die Sängerin ihrem Sopran fast gurrende Töne entlockt. Das Bayerische Staatsorchester begleitet sie unter Dan Ettinger besonders zärtlich, als wollte es zeigen, dass es zu den dominanten Tönen, die aus dem Orchestergraben klingen, eine humane Alternative angelegt. Freilich hat schon Puccini die objektiven Widersprüche dieser Welt, die zwischen irgendeinem Märchenchina des europäischen Orientalismus und den gefährlichen Massenexzessen der 20er Jahre changiert, in eine differenzierte Klangwelt gegossen. Turandot ist nur ausnahmsweise ein Kammerspiel. Seine einzige „Große Oper“, durchaus in Nachfolge der Grand Opéras des 19. Jahrhunderts, hat es ja mit beiden Polen zu tun, die, so der Regisseur, im Tao zum Ausgleich kommen sollten – und das Orchester zelebriert Puccinis Zauberklänge mit Leidenschaft: Gewalt und Zartheit, Brutalität und Intimität, Macht und Liebe, Hitze und Kälte. Bei aller gelegentlichen Lautstärke: der Klang bleibt an den stärksten Stellen monumental und rund. Und der Chor der Bayerischen Staatsoper unter der Leitung Sören Eckhoffs hat, ebenso wie die vielen unter der Kuppel schwebenden, dabei gelegentlich Schrifttransparente entfaltenden und auf der Bühne rollenden und tanzenden Bewegungsstatisten, einen wahrhaft großen Abend.

Ein bisschen rund sind auch die abgeschlagenen Köpfe, an denen sich die drei komischen Minister Ping, Pag und Pong erinnern, die hier mit Andrea Borghini, Kevin Conners und Matthew Grills ein homogenes Team bilden. Wo sie die Köpfe der toten Bewerber imaginieren, erscheinen riesige Video-Projektionen mit schwebenden Häuptern. Der Beginn des 2. Akts geht vor einem riesigen, dabei ästhetischen Kopfberg vor sich, der unversehens ins Tanzen gerät und sich bald zu einer hohen Wand erhebt. Einer dieser Köpfe gehört dem Prinz von Persien, der – das Bild erinnert an ein konkretes Hinrichtungsopfer aus der Zeit des Boxeraufstands – wie ein debil lächelnder Christus mit ausgebreiteten Armen über der Bühne schwebt. La Fura dels Baus gelingen immer wieder bewegende Bilder, in denen der Terror der chinesischen Jahrtausende (70.000 Jahrhunderte, wie die Minister meinen), der im Moment bei 5000 Hinrichtungen im Jahr liegt, ästhetisch festgehalten wird. Darf „man“ das so machen? Natürlich – denn eine Oper ist keine politische Zeitschrift. Sie ist ein ästhetisches Manifest, das seine Stärke (auch) aus der Schönheit zieht, selbst aus der Schönheit des Hässlichen, wie sie gelegentlich in Puccinis extremer Instrumentation aufblitzt. Aus diesem Grund haben mich auch nicht die Breakdancer, die Mädchen auf ihren Rollschuhen und die mit Lichtern an den Ohren versehenen Frauen irritiert. Gemeint ist wohl: im heutigen China des Terrors und der Wirtschaft existiert eine westlich inspirierte Welt der Unterhaltung, der Werbereklamen und der Lichtdioden und zugleich der Arbeiter, die gleich Kulis in ihren zwei Quadratmetern zu leben haben (und während Calafs Arie eine betörend poetische, von den Großstadtlichtern Pekings und Shanghais hinterfangene Schauwand bilden). Aus diesem Grund hat mich besonders das Bild des persischen Prinzen und des hochpoetischen Kinderchors fasziniert: die ästhetische Choreographie der kleinen, blütenweiß bemantelten Gestalten – ein genaues rhythmisches Nachvornschreiten – bagatellisiert nicht das Bild der Gewalt, das mit den Seilen entsteht, mit denen der Prinz auf der Plattform des von den Kindern gezogenen Turms zusammenhängt.

Am Ende aber ist nur noch Bambus – und stille Trauer. Nachdem wir ein letztes Mal die 3-D-Brillen aufgesetzt haben und den Höhepunkt der in verwirrender Fülle durch den Raum fliegenden Formen und Zeichen gesehen haben, schwebt die hingerichtete, buchstäblich ihr Blutopfer gebende Liù inmitten der Bühne, betrauert von Timur (Goran Jurić), einer Madonna gleich, von der die stilisierten Bambusrohre wie Strahlen wegführen. Das Spiel hat sich also doch gelohnt: für Calaf, der zur Rätsellösung Google eingesetzt hat (und das Opfer Liús im Prinzip annimmt und doch verweigert, weil die Leidenschaft zur „göttlichen Schönheit“ Turandots größer ist als die Hingabe zur zärtlich Verehrenden), und vielleicht für Turandot, die sich am Ende von Puccinis Fragment, da betörend traurig endet, dem zärtlichen Eroberer vorsichtig nähert. Für die Taoisten ist die „Unsterblichkeit“, zu der Turandot sich nun, nach dem gewaltsamen Tod der wahrhaft liebenden Liù, entscheiden kann, „die Tat der persönlichen und kollektiven Selbstüberwindung in Freundschaft mit der Umwelt“, wie es im notorisch guten Münchner Programmheft heißt. Allein die Frage ist berechtigt: Wird sich das runde umflimmerte Auge schließen, in dem der Mandarin und die Prinzessin ihre Verkündigungen sangen, wird der Mond nicht mehr bluten, werden die Köpfe nicht mehr rollen, nur weil der Gong für die Bewerbung um die Hand der kalten Prinzessin nicht mehr erklingen muss? Wird China endlich von den Opfern erlöst werden? Die Inszenierung weiß auf diese Fragen, die das gegenwärtige China betreffen, eine symbolische Antwort: Annäherung durch Frieden. Aber die Blutopfer waren hoch; dass sie in dieser Inszenierung gezeigt, aber zugleich ästhetisch umgedeutet werden, weil Turandot nicht Tosca ist (und weil auch sie schon über die berührenden Töne einer „echten“ Puccini-Frau verfügt), ist völlig legitim – und im Sinne des Gesamtkunstwerks Oper schlichtweg berauschend. So wie diese äußerst kurweilige und symbolisch anspruchsvolle Aufführung.

Frank Piontek, 12.12. 2016

Fotos: W. Hösl / Bayerische Staatsoper