München: „Un Ballo in Maschera“

Besuchte Aufführung: 23.3.2016 , Premiere: 6.3.2016

Rückschau eines Herrschers

Zu einer beachtlichen Angelegenheit geriet die Neuproduktion von Verdis Oper „Un ballo in maschera“ an der Bayerischen Staatsoper. Mit diesem Werk, das ursprünglich den am 15.3.1792 erfolgten historischen Mord an dem Schwedenkönig Gustav III zum Inhalt hat, tat sich die italienische Zensurbehörde schwer. Ein Königsmord auf offner Bühne stellte zu Verdis Zeiten ein ausgesprochenes Sakrileg dar, weswegen die Aufführung in dieser Form dann auch untersagt wurde. Bei dem Verbot dürfte auch die damals noch frische Erinnerung an das Attentat auf König Ferdinando II, das dieser überlebte, eine Rolle gespielt haben. Aus diesem Grund sah sich der Komponist veranlasst, das Geschehen in das amerikanische Boston zu verlegen und einige der aus der geschichtlichen Handlung übernommenen Namen realer Personen zu ändern. Aus Gustav III wurde der Gouverneur Riccardo und aus Graf Anckarström Renato, die Grafen Ribbing und Horn mutierten zu den Aufrührern Samuel und Tom. Die Namen von Amelia, Ulrica und Oscar wurden von Verdi dagegen nicht verändert. Das war indes auch nicht notwendig, denn sie entsprangen alle drei der Phantasie von Verdi und seinem Librettisten Eugène Scribe. Zudem ist die Dramaturgie der Oper mit ihrem für diese Gattung typischen Konglomerat aus Liebe, Eiersucht und Politik frei erfunden. Den Pagen, mit dem der wohl homosexuell veranlagte König anscheinend eine Beziehung unterhielt, hat es aber tatsächlich gegeben. Mit dem Oscar des Stückes hat dieser aber nichts zu tun. Am Münchner Nationaltheater war nun die umgearbeitete Fassung der Oper zu sehen.

Piotr Beczala (Riccardo), Statisterie

Die Inszenierung von Johannes Erath, der zum ersten Mal am Münchner Nationaltheater Regie führte, ist weder der Moderne noch der Tradition verpflichtet. Der Regisseur siedelt sie zusammen mit der Bühnenbildnerin Heike Scheel und Gesine Völlm (Kostüme) in den 1920er Jahren an. Angesichts des schwarz-weißen Rahmens fühlt man sich manchmal in einen Stummfilm versetzt. Das ist durchaus passend. Das Ganze wird von einer transparenten Rundgardine abgeschlossen. Wenn sich der Vorhang öffnet, erschließt sich dem Blick eine riesige, von oben nach unten verlaufende Freitreppe, die der alten Bayreuther Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ von Claus Guth entsprungen sein könnte. Auch anderweitig bedient sich Erath gerne bei Regie-Kollegen. So prangt in der Mittel des Raumes noch ein riesiges Himmelbett, in dem zu Beginn Riccardo liegt. Assoziationen an Stefan Herheims grandiose Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung werden wach. Eine gleichartige Bettstatt ist an der Decke befestigt. In diesem gleichsam nach oben gespiegelten Bett sieht man bereits zu Beginn den erschossenen Herrscher in seinem schicken blauen Morgenmantel. Geschickt rollt Erath das Stück von hinten her auf. Er deutet das Geschehen als Rückschau Riccardos auf der Schwelle des Todes. Dieses nimmt auch mal alptraumhafte Züge an. Insgesamt ist das Ganze weniger der Realität als vielmehr dem Surrealen verpflichtet. Vieles spielt sich nur im Kopf des tödlich verwundeten Riccardo ab, der die Ereignisse hier noch einmal Revue passieren lässt. Das ist ein durchaus akzeptabler Ansatzpunkt.

Piotr Beczala (Riccardo), Sofia Fomina (Oscar), Chor der Bayerischen Staatsoper

Hier haben wir es mit einem Gouverneur zu tun, der des Herrschens müde ist und Zerstreuung sucht. Seinen politischen Pflichten kommt er kaum noch nach. Er ist kein glücklicher Mensch, sondern nicht zuletzt aufgrund seiner unerfüllten Liebe zu Amelia der Traurigkeit verfallen. Er sucht nach immer neuen Reizen, die ihm aber keine Erfüllung bringen. Er ist nur noch ein Glücksritter, der im Leben keinen Sinn mehr sieht und sich nach dem Tod sehnt. Angesichts der daraus resultierenden fragwürdigen politischen Lage, die Feinden von außen Tür und Tor öffnet, ist das Verhalten der mit eleganten schwarzen Anzügen, weißen Hemden und Hüten versehenen Aufrührer nicht unverständlich. Ein Herrscher, der die öffentlichen Interessen nicht mehr wahrnimmt, ist eine Gefahr für das Land. Deshalb muss er eliminiert werden. Privates ist hier zweitrangig. Im Tod findet Riccardo schließlich endlich zu der Rolle, nach der er sich sehnt: Eines edlen und großmütigen Landesvaters, der allen verzeiht. Sanft wird er von Ulrica die Treppe hinauf gleichsam ins Jenseits geführt, während ein von der Regie oft eingesetztes Double tot am Boden liegt.

Hier MünchenNTBallo15o – Anja Harteros (Amelia), George Petean (Renato)

Der Figur der Wahrsagerin kommt in Eraths Sichtweise eine besondere Bedeutung zu. Sie hat durchaus nichts Unheimliches an sich, sondern wirkt sogar ein wenig erotisch. Bereits zu Beginn steht sie an Riccardos Bett. Sie verkörpert praktisch das Schicksal in Person. Immer wieder tritt sie im Lauf des Abends an Stellen auf, an denen Verdi und Scribe ihr eigentlich keinen Auftritt gegönnt haben. Hier lässt der Regisseur geschickt ein Tschechow’sches Element einfließen, durch das die Inszenierung nur noch spannender wird. Gleichzeitig wird anhand dieser Figur auch die Psychologie mit ins Spiel gebracht. Ulrica stellt auch die innere Stimme Riccardos, sein Unterbewusstsein dar, mit dem er sich auseinandersetzen muss. Den Menschen, die zu ihr kommen, hält sie gleichsam den Spiegel vor und nimmt ihnen die figurativen Masken ab.

Anja Harteros (Amelia), George Petean (Renato), Okka von der Damerau (Ulrica)

Die Festgesellschaft des Maskenballs trägt keine gegenständlichen Masken. „Maske“ ist hier symbolisch zu verstehen. Alle Menschen tragen ihr ganzes Dasein über eine Maske. Das ganze Leben ist ein einziger großer Maskenball. Der Begriff weist als Inbegriff aller möglichen sowohl äußeren als auch inneren Tarnungen auch eine geistige Dimension auf und steht allgemein für alles, was die beteiligten, oft mit einer Handpuppe spielenden Personen aus irgendwelchen Gründen nicht preisgeben wollen. Dieser hoch interessante Ansatzpunkt ist indes nicht mehr neu. Das hat man andernorts schon ähnlich gesehen. Effektiv ist diese Vorgehensweise aber allemal. Eine echte Verkleidung trägt lediglich Oscar. Dies wird allerdings erst im Schlussbild offenkundig, als sich der Page gegenüber Renato als Frau outet, sich das Hemd aufknöpft und die Perücke abnimmt. Es waren schon einige sehr interessante Aspekte, die Erath hier auf die Bühne des Nationaltheaters gebracht hat, die teilweise aber leider nicht ganz zu Ende gedacht waren. Dennoch haben wir es hier mit einer insgesamt überzeugenden, repertoiretauglichen Inszenierung zu tun, die auf der Rangliste der Produktionen der Bayerischen Staatsoper einen vorderen Platz einnimmt. Man kann mit ihr gut leben.

Anja Harteros (Amelia), Piotr Beczala (Riccardo), George Petean (Renato) Chor der Bayerischen Staatsoper

Gesanglich kann man von einem wahren Fest sprechen. Die sängerischen Leistungen wiesen ein sehr hohes Niveau auf. Als erstes ist hier Piotr Beczala zu nennen, der in Riccardo eine seiner besten Partien gefunden hat. Den Spagat zwischen lyrischer Eleganz und heldentenoraler Kraft hat er aufs Beste bewältigt. Er sang mit großer Grandezza und enormer Emphase. Ebenfalls nachhaltig zu begeistern wussten seine Linienführung und Phrasierungskunst sowie die sicheren, kraftvollen Spitzentöne. Bei der Amelia hatte an diesem Abend der Krankheitsteufel zugeschlagen. Die indisponierte Anja Harteros ließ sich vor der Aufführung entschuldigen. Den ersten Akt hielt sie mit ihrem bezaubernden, silbern schimmernden und hohe lyrische Innigkeit atmenden Sopran noch durch. Ab dem zweiten Akt spielte sie ihren Part nur noch, während Elena Pankratova die Rolle von der Seite aus mit bestens fokussiertem, durchschlagskräftigem und über hohes dramatisches Potential verfügendem Sopran sang und sich beim Schlussapplaus zurecht über den begeisterten Zuspruch des Publikums freuen durfte. Gut gefiel George Petean, der einen sauber durchgebildeten lyrischen, aber dennoch kräftigen Bariton für den Renato mitbrachte. Er verfügt über eine treffliche Höhe und ist auch zu einfühlsamen Schattierungen fähig, was seine beeindruckende Leistung recht differenziert erscheinen ließ. Phantastisch schnitt auch Okka von der Damerau in der Rolle der Ulrica ab. Schon darstellerisch sehr charismatisch und verführerisch vermochte sie mit ihrem über eine profunde Tiefe verfügenden, aber auch prachtvolle hohe Töne aufweisenden Mezzosopran sehr für sich einzunehmen. Dem Oscar gab Sofia Fomina mit wunderbar verankertem, tiefsinnigem, flexiblem und koloraturgewandtem Sopran eine recht lyrische Note. Bei den profund singenden Bassisten Anatoli Sivko und Scott Conner waren die beiden Verschwörer Samuel und Tom in bewährten Händen. Solides Baritonmaterial brachte Andrea Borghini für den Silvano mit. Dünnstimmig sang Ulrich Reß den Obersten Richter. Als Diener Amelias war rollendeckend Joshua Owen Mills zu erleben. Als Kind gefiel der kleine Timon Pal. Wieder einmal ganz in seinem Element zeigte sich der von Sören Eckhoff präzise einstudierte Chor der Bayerischen Staatsoper.

Sofia Fomina (Oscar), Piotr Beczala (Riccardo), Chor der Bayerischen Staatsoper

Für den 79-jährigen Zubin Mehta, der nach zehn Jahren an die Stätte seines einstigen Wirkens zurückkehrte, war dieser „Ballo“ ein verspätetes Debüt. Er hatte Verdis Werk bis dahin nur konzertant dirigiert. Umso erfreulicher war das Ergebnis. Was an diesem Abend aus dem Orchestergraben tönte, war schon phantastisch. Mehta hatte das konzentriert und mit schöner Italianita aufspielende Bayerische Staatsorchester bestens im Griff und animierte es zu einem prächtigen, glutvollen und emotionalen Spiel mit prägnanten Akzenten und von hoher Eindringlichkeit, das darüber hinaus farbenreich und differenziert anmutete. Da wurde mit größter Perfektion und Präzision gespielt und das Ineinander von italienischer und französischer Operntradition trefflich vermittelt. Bravo!

Fazit: Ein Abend, der sich allein schon wegen Mehta und der hervorragenden Sänger gelohnt hat, der aber auch regiemäßig insgesamt recht überzeugend war

Ludwig Steinbach, 26.3.2016

Die Bilder stammen von Wilfried Hösl