Es ist noch gar nicht lange her, dass die Münchner Produktion von Mieczysław Weinbergs grandioser Oper Die Passagierin von der Zeitschrift Opernwelt neben einigen anderen mit zur Aufführung des Jahres gekürt worden ist. Das war wahrlich eine große Auszeichnung! Jetzt hat diese bemerkenswerte Produktion der Passagierin an der Bayerischen Staatsoper eine hervorragende Wiederaufnahme erlebt.
Ich werde nicht müde, mich für die Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles…Die Musik der Oper erschüttert in ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige ‚leere‘, gleichgültige Note. Diesen begeisterten Worten des Freundes und großen Mentors Weinbergs, Dmitry Schostakowitsch, kann man sich nur von ganzem Herzen anschließen. Sie treffen den Nagel auf den Kopf und befinden sich im Vorwort des von dem Verlag Peermusic herausgegebenen Klavierauszuges der Passagierin. Bei dieser Oper handelt es sich um etwas ganz und gar Einzigartiges, um ein Werk von erlesenster Güte, ungemein hoher Kraft und Intensität sowie immenser Eindringlichkeit. Ebenfalls sehr außergewöhnlich ist die Wirkung, die die Passagierin auf das Publikum entfaltet. Aus dieser Oper geht man anders heraus als aus anderen Werken des Musiktheaters. Man fühlt sich in höchstem Maße ergriffen, berührt und sogar ein wenig beklommen. Weinbergs Passagierin erschließt sich den Zuschauern auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die sie zunächst kaum spüren, die sie dann aber umso stärker packt und in ihren Bann zieht.
Die Grundlage von Weinbergs Oper bildet der gleichnamige Roman – im Original: Pasazerka – der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz (1923 – 2022), in dem diese ihre Erlebnisse in der Hölle von Auschwitz mit ungemeiner Radikalität schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch die Verdrängungsmentalität der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kritisch beleuchtet. Seit der Uraufführung der Passagierin bei den Bregenzer Festspielen 2010 war Frau Posmysz bei fast allen Premieren dieser phantastischen Oper dabei und begab sich dabei fast immer beim Schlussapplaus mit auf die Bühne, um sich dem Applaus des stets hoch begeisterten Publikums zu stellen. Durch ihren Tod kurz vor ihrem 99. Geburtstag konnte sie bei der Münchner Premiere des Stückes am 10. März 2024 nicht mehr dabei sein. Die Münchner Produktion war damals die erste seit dem Tod von Zofia Posmysz.
Der jüdisch-polnische Komponist Mieczyslaw Weinberg, der bereits in jungen Jahren vor der in sein Heimatland einmarschierenden Nazi-Armee in die UdSSR geflüchtet ist, wo er den Rest seines Lebens im Exil verbracht hat, greift in seiner Passagierin, deren Aufführung in der UdSSR ideologisch bedingt lange verboten war – das hat sich erst vor kurzer Zeit geändert – das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Das Libretto verfasste Alexander Medwedjew. Weinberg, der seine gesamte Familie in der Shoa verlor, und sein Textdichter behielten die Grundstruktur von Frau Posmysz` Buch bei und nahmen nur wenige Änderungen vor, um einige Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen.
Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 1950er Jahre auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen ehemaligen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst tot glaubte. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt in zunehmendem Maße wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber befindet sich Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und der sie sogar eine Begegnung mit ihrem ebenfalls gefangenen Verlobten Tadeusz – er ist in Weinbergs Oper im Gegensatz zu Zofia Posmysz‘ Buch nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, die sie aber am Ende doch in den Todesblock schickt. Wie es Marta schließlich gelungen ist, dem Tod zu entrinnen, ist ein großes Geheimnis, das nicht geklärt wird. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem darob entsetzten Mann zu guter Letzt alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen! Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Bilder abwechselnd auf dem Ozeandampfer und in Auschwitz ab. Es ist wahrlich eine erschütternde Geschichte, zu deren Zeuge das Auditorium hier wird. Weinbergs Passagierin stellt einen enorm unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Vergessens mit den Mitteln des Musiktheaters. Von diesem Werk kann man einfach nur immens begeistert sein!
Weinbergs Musik ist von geradezu atemberaubender Fulminanz. Sie erinnert stark an diejenige von Schostakowitsch. Als Beispiel dafür kann der Walzer des Kommandanten dienen. Anklänge an Prokoviev und Britten werden ebenfalls hörbar. Die Passagierin-Partitur weist eine erweiterte Tonalität auf und zeichnet sich darüber hinaus durch Elemente der Dodekaphonie aus. Gleichzeitig ist der Klangteppich aber von ausgesprochen schöner Natur und häufig auch sehr melodiös. Diesbezüglich seien nur die recht emotional anmutenden Lieder der weiblichen Häftlinge, der Choral sowie das herrliche Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt als Beweis herangezogen. Und für die von Weinberg verwendete Leitmotivtechnik hat wohl Richard Wagner Pate gestanden. Die Leitmotive wirken bei der Passagierin im Vergleich zu Wagner indes nicht direkt, sondern mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Dennoch bleiben zahlreiche Themen nachhaltig in Erinnerung. Das gilt in erster Linie für die musikalischen Zitate aus der Musikgeschichte. Als Beispiel dafür seien Bachs Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Solo-Violine, das Schicksals-Motiv aus Beethovens 5. Symphonie in c-Moll, Schuberts Militärmarsch in D-Dur sowie das Prügel-Motiv aus Wagners Meistersingern genannt. Diese phänomenale Musik haben der junge Dirigent Azim Karimov und das blendend disponierte Bayerische Staatsorchester mit großem Glanz, differenziert und sehr emotional vor den Ohren des begeisterten Publikums ausgebreitet.
Regisseur Tobias Kratzer und der musikalische Stab der Bayerischen Staatsoper haben die Oper bedauerlicherweise extrem gekürzt. Von den ursprünglich zweidreiviertel Stunden Musik sind nur noch circa zwei Stunden übrig. Alles, was auch nur andeutungsweise für russische Propaganda ausgenutzt werden könnte, wurde in München gnadenlos eliminiert. Die Figur der russischen Partisanin Katja, die Weinberg und Medwedjew eingeführt hatten, um die Zensur gnädig zu stimmen, fiel ebenfalls dem Rotstift zum Opfer. Ihre letzten Worte werden hier von Yvette gesungen. Das Münchner Leitungsteam hat offenbar nichts unternehmen wollen, was Putin ärgern könnte. Politisch gesehen mag dieses Vorgehen ja verständlich sein, nicht aber künstlerisch. Die umfangreichen Striche muteten schon sehr schmerzlich an. Dabei ist die Inszenierung insgesamt ganz hervorragend. Kratzer und seinem Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier ist eine famose Arbeit zu bescheinigen. Diese Produktion gehört mit zum Besten, was die Rezeptionsgeschichte des Werkes zu bieten hat. Die Auszeichnung zur Aufführung des Jahres wird nur zu verständlich. Kratzer begreift das Stück als Parabel, was die Legitimation für den durch und durch zeitgenössischen Anstrich ist, den er dem Werk angedeihen lässt. Zu einer irgendwie gearteten historischen Bebilderung der Auschwitz-Szenen geht er auf Abstand und lässt das Ganze durchweg auf dem Schiff spielen. Diese Vorgehensweise, die man beispielsweise schon in Graz, Mainz und Gelsenkirchen gesehen hat, ist durchaus legitim. Das kann man so machen. An das Konzentrationslager erinnern nur noch die gestreiften Liegestühle und Handtücher. Die SS-Männer erscheinen als leger eingekleidete Reisende, die ihrer vergangenheitsorientierten NS-Gesinnung beredten Ausdruck verleihen.
Der erste Akt wird gänzlich von den über drei Etagen verteilten fünfzehn Kabinen des Ozeandampfers dominiert. Diese öffnen und schließen sich stets aufs Neue und geben den Blick auf ihr Inneres frei. Zusätzlich zu den beiden Ebenen des Ozeanriesen und Auschwitz hat Kratzer noch eine weitere Ebene hinzugefügt: Bei ihm gibt es noch eine alte Lisa, die im Jahre 2024 mit der Urne ihres Mannes von Brasilien nach Deutschland zurückreist, um die Asche Walters in der Heimat zu bestatten. Sie erinnert sich sowohl an ihre erste Schiffsreise nach Brasilien Ende der 1950er Jahre als auch an ihre Zeit in Auschwitz von 1942. Nachhaltig geht sie auf Konfrontationskurs zu der schwarz gekleideten Marta und fängt an, sie und ihre Leidensgenossinnen, die der Regisseur als Alter Egos von Marta interpretiert, immer intensiver zu beobachten. Ihr schlechtes Gewissen gewinnt dabei deutlich immer mehr die Oberhand. Von Schuldgefühlen geplagt, will sie schließlich Selbstmord begehen. Am Ende des ersten Aktes stürzt sie sich in den Ozean, den man bereits ganz zu Beginn als Projektion erblickt hat. Ein Film zeigt, wie die alte Lisa im Meer versinkt. Ob ihr Suizid indes von Erfolg gekrönt ist, bleibt zumindest zweifelhaft.
Der zweite Akt scheint nämlich eine Nahtoderfahrung der ehemaligen KZ-Aufseherin darzustellen. An die Stelle der Außenansicht des Ozeandampfers ist dessen Bankettsaal getreten, der von zahlreich herumstehenden Tischen eingenommen wird. Diese Reihung von leeren Tischen mit dem Fluchtpunkt in weiter Ferne zeigt auf einer symbolischen Ebene den Zwang und Drang zur Ordnung bis ins beinahe Unendliche (so Kratzer im Programmbuch). Hier mündet die Handlung in ein riesiges Captains-Dinner. Die Torten mit brennenden Wunderkerzen gemahnen an das jeweilige Ende der Fernsehserie Das Traumschiff. In diesem Ambiente spitzt sich das dramatische Geschehen immer mehr zu. Deutlich wird, dass Lisa Marta in einer Form von lesbischer Liebe verfallen ist und auf deren Geliebten Tadeus in hohem Maße eifersüchtig ist. Wie wild reist sie Marta fast sämtliche Kleider vom Leib, bis diese nahezu unbekleidet, mit nackten Busen und nur noch mit einem Höschen bekleidet, ihr gegenüber steht. Während des folgenden Zwiegesprächs zwischen Lisa und Tadeusz liegt Marta längere Zeit barbusig auf dem Tisch. Als die beiden schließlich den Raum verlassen, stimmt sie, nun ganz allein und praktisch immer noch nackt, ihr auf einem Gedicht von Sandor Petöfi (1823 – 1849) beruhendes Lied an. Zum Tanz kommen die Reisenden in eleganter Aufmachung. Die SS-Leute sind nun in weiße Marine-Uniformen gekleidet und gehören der Schiffsbesatzung an. Sie sind es, die später im Konzert-Bild Tadeusz töten, nachdem dieser statt des vom Kommandanten geforderten Walzers Bachs Chaconne den Anwesenden auf seiner Geige zu Gehör gebracht hat. Am Ende sieht man erneut das mit filmischen Mitteln dargestellte Meer, auf dem der projizierte polnische Text von Martas Schlussgesang erscheint, den diese unsichtbar aus dem Off singt. Bis auf die leidlichen Striche haben wir es hier mit einer spannenden und von einer intensiven Personenregie geprägten Inszenierung zu tun.
Grandios waren die gesanglichen Leistungen. Durchweg wurde mit vorbildlicher Körperstütze gesungen. Tanja Ariane Baumgartner sang mit üppigem, sonorem und ausdrucksstarkem Mezzosopran eine gute Lisa, die sie auch perfekt spielte. Einen wunderbaren, bestens italienisch fokussierten, differenzierungsfähigen und gefühlvollen lyrischen Sopran brachte Elena Tsallagova für die Marta mit. Darstellerisch überzeuge sie ebenfalls. Für ihren Mut, den Zuschauern ihre nackten Brüste zu präsentieren, ist ihr ein besonderes Lob auszusprechen. Charles Workman gab den Walter mit kraftvollem, imposantem Tenor. Seit der Premierenserie im Frühjahr hat er sich noch weiter verbessert. Einen sonoren und nuancenreichen Bariton ließ der Tadeusz von Jacques Imbrailo hören. In gleicher Weise tadellos schnitten die perfekt intonierenden Xenia Puskarz Thomas (Krystina), Lotte Betts-Dean (Vlasta), Noa Beinart (Hannah), Larissa Diadkova (Bronka) und Evgeniya Sotnikova (Yvette) ab. Die fünf Sängerinnen harmonierten aufs Beste miteinander. Profunde Stimmen brachten Bálint Szabo, Roman Chabaranok und Gideon Poppe in die kleinen Partien der drei SS-Männer ein. Der ältere Passagier von Martin Snell beeindruckte vor allem durch seine tolle Tiefe. Sophie Wendt (Oberaufseherin, Kapo) und Lukhanyo Bele (Steward) aus dem Sprechtheater sowie Dimiter Ivanov als Sologeiger rundeten das homogene Ensemble ab. Mächtig ins Zeug legte sich der von Christoph Heil grandios einstudierte Bayerische Staatsopernchor.
Fazit: Der Besuch dieser Aufführung des Jahres ist sehr zu empfehlen!
Ludwig Steinbach, 18. November 2024
Die Passagierin
Mieczysław Weinberg
Bayerische Staatsoper
Premiere: 10. März 2024
Besuchte Aufführung: Wiederaufnahme am 15. November 2024
Inszenierung: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Azim Karimov
Bayerisches Staatsorchester