Bayreuth: Das Rheingold – immer noch Loge (Diskurs Bayreuth: Ring 20.21 – Teil 1)

Uraufführung: 29.7. 2021

Wer ist Loge? Ist er ein gescheiterter Aufklärer oder ein skrupelloser Intellektueller, ein Opfer oder ein Täter des Systems Wotan? Teil 1 des außergewöhnlichen Ring-Projekts des diesjährigen Diskurs Bayreuth, dessen Ergebnisse nur schwer zwischen zwei Buchdeckeln zu vereinigen sein werden (wir freuen uns darauf), beantwortet die Frage auf eine Weise, die den Ring, genauer: das Ring-Finale weiterdenkt; gegenüber kann der Besucher des Festspielhügels die Götterdämmerungs-Installation Chiharu Shiotas bewundern, betrachten und umrunden. Gegenüber, das heißt: dem Teich im Festspielpark entgegengesetzt, an dem, topographisch höchst passend, nach dem Ende des Endes Immer noch Loge eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage zu geben versucht. Den musikalisch-spielerischen, 60 Minuten kurzen Vormittag haben drei Männer entworfen, die für ihre Kunst gleichsam brennen: der Librettist Paulus Hochgatte rer, der Komponist Gordon Kampe und der Puppenmacher und -spieler Nikolaus Habjan.

Wagner-Puppenadaptionen zumal im Ring-Bereich sind nicht neu; zwei Tage nach der Premiere von Immer noch Loge wird ein Ring-Figurentheater in Bayreuth gastieren, vor 30 Jahren verfilmte das hiesige Wolle-Würfel-Figurentheater die Tetralogie, es existieren mehrere animierte Ring-Filme, ja: man könnte inzwischen ein Buch zum Thema „Wagner und das / im Figurentheaterspiel“ machen. Der Ring eignet sich vielleicht deshalb so gut für diese vielfältige Spiel-Art, weil die fantastischen Figuren ein Kasperletheater höherer und höchster Ordnung geradezu provozieren: nicht nur in Hinblick auf Siegfried als Krokodil-, pardon: Drachentöter.

Nun also entwarf man ein Endspiel, um es am geeigneten Ort zur Uraufführung zu bringen – denn die Rheintöchter durch den Teich schwimmen zu lassen ist so naheliegend wie betörend. Habjans Rheintöchter aber sind keine erotisch reizenden, sondern blau schimmernde, kalte Wasserwesen, die es lieben, wie Gollum die Fische aufs Wasser zu schlagen, um sie zu töten. Die Szene spielt nach dem Walhallweltbrand, die uralte Erda, persönlich gespielt vom Meister der Klappmaulpuppen, im Rollstuhl auf einem langen Steg sitzend (Bühne: Julius Theodor Semmelmann) hält Gericht über den gefangenen Feuergott, dessen Elementarwirkung kaum etwas Anderes als Asche hinterließ. Ist er schuld daran? War er, als „Plappermaul“, der „Brandstifter“? Ist er verantwortlich für das Welteschensterben? Wo die Welt stirbt und der Ring zur ökologischen Parabel auf den drohenden Weltuntergang wird, scheint Immer noch Loge Partei zu nehmen gegen den Gott, der noch vor Gericht das Spotten nicht lassen kann; Kampes Musik begleitet alle Nuancen und alle pauschalen dramatischen Affekte des Texts mit einer Souveränität, die das Dunkeldräuende und das Populäre umfasst. Wir hören Rezitative, Arioses, Terzette und Couplets, Walzer und tänzerische Viertakter, eine Elegie im Sechsachteltakt („Was bleibt übrig, wenn Helden verbrennen?“) und, auf Loges „Neid“-Tirade, ein buffoneskes Parlando. Wo Wagner – in Text und Musik – ausdrücklich zitiert wird, geschieht‘s allein aus juristischen Gründen: „Welchen Handel hätt ich geschlossen“, also Loges Frage an den vertragsverzweifelten Wotan. Nur sieben Musiker genügen, um eine pralle Kammerorchester-Partitur zu realisieren, in der doch jedes Instrument als individueller Solist hörbar ist: Violoncello und Bass, Klarinette und Bassklarinette, Horn und Trompete, Posaune und Schlagzeug – letzteres begleitet Erda, nach dem initialen Es des Grundrauschens des Vorspiels dieser Loge-Geschichte bis zum Ende, in dem die letzten Töne der Kuhglocken im Nichts verhallen.

Doch ist es nicht, wie‘s im Libretto steht, die Göttin, die übrig bleibt. Wird Loge bei Hochgatterer mit einem Fisch gestopft und sodann in seinem Käfig angezündet, darf er bei Habjan die Urmutter zudecken und die für sie vorgesehenen letzten Worte singen: „Sie lächelt. Seht ihr sie lächeln?“ Womit schon mit der ersten Aufführung des neuen Werks die zentrale Aussage des Schlusses ins Gegenteil verkehrt, vielleicht, wie Ernst Bloch gesagt hätte, „zur Kenntlichkeit entstellt wird“: denn Hoffnung auf einen gerechten Ausgang des Welt-Prozesses scheint es nicht mehr zu geben, weil Feuergötter sich im Feuer besonders wohl zu fühlen pflegen.

Rein technisch machen Habjan und seine beiden Puppen- und Makenspieler (Clara Rybaczek und Stephan Q. Eberhard) das hinreißend. Den Teich im Festspielpark werden sich die Zuschauer zukünftig kaum anders vorstellen als von leicht gruseligen Rheintöchtern bevölkert, von denen die dritte ziemlich tot erscheint und als hilfloses Bündel von ihren beiden Schwestern mitgezogen wird; wenn Daniela Köhler sie lange im Arm hält, begegnen sich Figur, Mensch und Sänger so wie Erda und Stephanie Houtzeel, die eine wunderbare, warm intonierende Mezzo-Erda singt und – „Der Weltenbrand! Der Weltenbrand!“ – plötzlich wie eine aufgeregte Prophetin auf- und zur Puppe springt, um mit ihr zusammen zu sein. Später wird auch der dunkle Bariton Günter Haumer seine konzertante Komfortszene verlassen, um ins Wasser zu steigen und sich ein wenig später in Windeseile in Loge zu verwandeln, der das letzte Wort haben wird. Wer also ist Loge? Ein „Zündler“, so Habjan, der immer zu überleben scheint, auch wenn er in einem Sarg lebt, in dem er sich auf Aschenhaufen bettet. Nennt man Loge auch „Lüge“, so ist er doch auch dafür gut, ein groteskes wie am Schnürchen ablaufendes musikalisches Puppenspiel provoziert zu haben, das nach dem leisen Schlussakkord – und dem mehr als freundlichen Applaus – in seiner realen Entsprechung so schnell kein Ende finden wird.

Frank Piontek, 29.7. 2021

Fotos: ©Bayreuther Festspiele / Enrico Nawarath