Starke Stimmen vor eintöniger Kulisse
Nachdem es bis kurz vor der Aufführung noch so aussah, als würden zahlreiche der Karten nicht verkauft werden – ein absolutes Novum für Bayreuth – blieb dann doch keiner der unbequemen Klapp-Sitze unbesetzt. Da dieses Jahr die Preise gegen den Willen von Chefin Katharina Wagner angehoben wurden, müssen sich die Klassik-Liebhaber nun mit einer deutlich teureren Holzklasse abfinden. Wer sich für die 2023er-Premiere des „Fliegenden Holländers“ entschied, dürfte dies zumindest nicht bereut haben. Kräftige, ausdauernde Stimmen, eine agile Dirigentin in Hochform und Chöre mit großer Routine zeichnen Dmitri Tcherniakovs Version des Dramas im dritten Jahr aus.
Wenn da nur nicht diese stumpfen Farben wären. Das Bühnenbild beugt sich dem aktuellen Trend zum Minimalismus, was furchtbar praktisch ist – denn die grauen Häuser-Kulissen lassen sich mit geringem Aufwand zu neuen Strukturen verschieben. Kein Schiff, kein Meer weit und breit. Zugegeben, diese Zutaten sind notgedrungen abgelutscht. Stattdessen: Ein kleines, norwegisches Städtchen, vor dem verschiedene zeitliche Ebenen stattfinden. In einigen Szenen finden sich haufenweise Plastikstühle. Und zuletzt durchbrechen doch tatsächlich ein paar wenige sonnengelbe und rote Trinkbecher die betont dezente Farb-Tristesse. Dazu hat Tcherniakov inhaltlich am Drehbuch der Oper geschraubt. Ganz so wie seit 1843 will man die romantische Sage eben nicht auf die fränkischen Bühnenbretter bringen. Also kein Wasser, kein Mast, keine Segel: Die sind nun alle weg.
Dafür hat der Regisseur aus Moskau den angeblichen Selbstmord der Holländer-Mutter zu Beginn der Handlung hinzugefügt. Sie ist das Opfer bösesten Mobbings – denn kaum tritt die junge Frau zur lockeren Gesellschaft auf dem Marktplatz, drehen sich alle unisono weg. Zurückweisung kann tödlich sein, und so springt die Verzweifelte aus einem der grauen Häuser in eine Schlinge. Zurück bleibt ihr Sohn, den fortan ein unbezwingbarer Hass auf die selbstverliebte Gesellschaft in dem Hafenstädtchen umtreibt. Aus dem Wagner`schen Motiv um Treue und Verzweiflung wird dementsprechend das Leitmotiv der Rache. Wie in „Der Besuch der alten Dame“ von Dürrenmatt kehrt der älter gewordene Seefahrer in den Ort seiner Jugend zurück, um es allen heimzuzahlen. Dort trifft er auf Kapitän Daland (Georg Zeppenfeld), der von dem wohlhabenden Fremden sofort angetan ist und den Holländer spontan zu sich nach Hause einlädt.
Der zweite Aufzug präsentiert sich zum Teil als bürgerliches Idyll à la Buddenbrooks. Bei Dalands zu Hause deckt die „Amme“ Mary (Nadine Weissmann) den Tisch, an dem der Gast, Daland und dessen Tochter Senta (Elisabeth Teige) Platz genommen haben. Ein paar Kerzen werden entzündet, dann kann das sittsame Tête-à-Tête losgehen. Senta beschnuppert den rauen Seemann, der zumindest in Wagners Libretto kein Unbekannter für sie ist. Doch auch hier wurde die Vorlage aus der Mitte des 19. Jahrhunderts leicht gedreht: In der Spinn-Szene des mittleren Aufzugs fehlt das Bild des fliegenden Holländers an der Wand, und die verstaubten Spinnräder selbst sucht man ebenfalls vergebens. Stattdessen hält der ansprechend harmonierende Chor der Mädchen jeweils Blätter in der Hand, so als wollten sie davon den Text für ihren Gesang ablesen. Auch am Schluss gibt es wenig Gnade für die Vorlage: Senta stürzt sich nicht in ewiger Treue von einem Felsen, sondern es gibt einen kurzen Schusswechsel, und die eintönig graue Kulisse geht endlich in Flammen auf. Bis zum bitteren Ende wird hier der rote Faden der Rache aufrechterhalten, so dass die Inszenierung stringent wirkt. Zwischendurch versucht Sentas Verlobter Erik (Tomislav Muzek) ganz vorlagengetreu, seine wackelnde Braut zurückzugewinnen.
Besondere Qualität erhält die Aufführung durch das luftige Dirigat der ersten Frau im Bayreuther Festspielhaus. Oksana Lyniv liefert gleich zu Beginn des ersten Akts eine erfrischende Brise, die in den folgenden über zwei Stunden weiter den Zuschauerraum umbrandet. Die gebürtige Ukrainerin setzt prickelnde Akzente und schafft da und dort musikalische Wellenstürme, ohne jemals zu dick aufzutragen. Die Unterfütterung des Bühnengeschehens durch das Festspiel-Orchester erfreut daher von Anfang an. Die 45-Jährige arbeitet sorgsam Höhepunkte heraus und weiß sich doch an den richtigen Stellen zurückzunehmen.
Unter den Hauptfiguren hat sich eine kleine Sanges-Elite zusammengefunden. Der 1960 als letztes von acht Kindern im Schwarzwald geborene Michael Volle verleiht des Holländer eine große stimmliche Tiefe. Im Duett mit Kapitän Daland (Georg Zeppenfeld) zeigt sich die Routine der beiden Klassik-Stars. Sie beide werden dennoch vom Stimmvolumen Elisabeth Teiges überstrahlt – bei der man schnell den Eindruck gewinnt, sie müsse sich geradezu zurücknehmen, um nicht allzu dominant zu wirken. Alle drei Hauptrollen wirkten sangeslustig und ausdrucksstark. Wobei emotional keinerlei Wärme zwischen diesem Holländer und der zwanzig Jahre jüngeren, norwegischen Sopranistin aufkommt. Fast um dies zu unterstreichen, fällt Volle das rote Blümchen erst mal aus der Hand, welches er der gleich von zwei Männern umschwärmten Senta am Esstisch überreichen will. Gesanglich lässt sich jedoch schwer meckern, und so wird Michael Volles Bariton-Darbietung vom Publikum minutenlang dankbar gefeiert. Auch Teige und Dirigentin Lyniv dürfen sich nach dem dritten Akt (ohne Pause) über warmen Applaus freuen. Das hier klang nach mehr.
Daniela Egert, 3. August 2023
Richard Wagner: Der fliegende Holländer
Bayreuther Festspiele
Vorstellung am 1. August 2023
Inszenierung: Dmitri Tcherniakov
Musikalische Leitung: Oksana Lyniv
Orchester der Bayreuther Festspiele