Massives Buh-Konzert, aber szenisch dennoch gelungen
Besuchte Aufführung: 26.8.2022 (Premiere: 1.8.2022)
Das Schwert ist ein Revolver
In den Schlussapplaus der Walküre-Aufführung vom 26.8.2022 mischten sich neben starken Applaus auch vehemente Buhrufe. Diese galten neben einzelnen musikalischen und gesanglichen Leistungen wohl in erster Linie der Inszenierung von Valentin Schwarz in dem Bühnenbild von Andrea Cozzi und den Kostümen Andy Besuch s. Wer jetzt auf die Idee kommt, hier handele es sich um eine schlechte Regie, irrt sich. Nicht alles, was modern inszeniert ist, muss gleichzeitig auch automatisch schlecht sein. Das ist ein seit langem nicht nur in Bayreuth verbreiteter Trugschluss. Oft sind es gerade die – wie hier – stark ausgebuhten Produktionen, die in besonderer Weise gelungen sind. Auch im vorliegenden Fall sollte man sich vor derartigen Vorurteilen hüten. Was der Regisseur an diesem Abend auf die Bühne des Bayreuther Festspielhauses brachte, war durchaus ansprechend, trefflich durchdacht und mit Hilfe einer stringenten Personenführung auch spannend umgesetzt.
Nach wie vor geht es Schwarz um die Aufzeigung von Netflix-Dramaturgie, um die Sichtbarmachung erheblicher Missstände innerhalb einer Familiendynastie, der verbrecherische Umtriebe nicht fremd sind. Sex and Crime herrschen an allen Ecken und Flecken. Als erstes ist an dieser Stelle Schwarz‘ großes Geschick im Umgang mit Tschechow‘ schen Elementen zu bewundern. Immer wieder gönnt er Personen an Stellen Auftritte, wo Wagner für sie keinen solchen vorgesehen hat. Dadurch steigt die Spannungskurve unheimlich an. Neu und ungewöhnlich war, dass man am Anfang zuerst den Wachmann Hunding sieht, wie er die vielen Kinderbilder, die bei ihm an der Wand hängen, anschaut. Sein Domizil wird von einer wurzellos am Boden liegenden Esche geprägt, die durch einen Sturm in diese Lage geraten ist und die Elektronik in Hundings Wohnhaus nahezu gänzlich lahmgelegt hat. Immer wieder erlöschen die Lichter in Andrea Cozzis eindrucksvoll sich stets auf Neue verschiebenden Räumen. Dann müssen Taschenlampen das nötige Licht spenden.
In diesem Ambiente gelingt dem Regisseur eine eindringliche Beleuchtung der zwischenmenschlichen Beziehungen, was insbesondere für Siegmund und Sieglinde gilt. Äußerst bemerkenswert ist der Fakt, dass Sieglinde bereits im ersten Aufzug hochschwanger ist. Hier stellt sich natürlich gleich die Frage, wer sie geschwängert hat. Siegmund wohl kaum. Auch Hunding scheidet aus. Am Ende des zweiten Aufzuges, wenn Wotan seiner Tochter unter den Rock greift und ihr das Höschen wegpraktiziert, wird offenkundig, dass der Göttervater selbst der Vater des Helden Siegfried ist, der zwischen dem zweiten und dem dritten Aufzug geboren wird und im dritten Aufzug als Baby behände herumgereicht wird. Wotan hat seine eigene Tochter vergewaltigt. Dieser Inzest auf einer anderen Ebene als von Wagner vorgesehen war frisch und neu, um es einmal mit Goethes Theaterdirektor zu formulieren. Damit nimmt Schwarz Siegmund zwar eine nicht unbedeutende Funktion, aber es bleibt zwischen den Geschwistern noch genügend Liebe übrig, um Fricka zu erzürnen. Ein guter Einfall seitens der Regie war es, dass Hunding während des Beginns der dritten Szene des ersten Aufzuges eingeschlafen am linken Rand der Bühne sitzt. Jeden Augenblick könnte er aufwachen. Das tut er am Ende des Aufzuges auch und geht wütend auf die Wälsungen-Zwillinge los. Das war ein famoser Regieeinfall. Wieder ließ hier Tschechow grüßen. Besonders trefflich gelungen waren Schwarz die Winterstürme, in denen Siegmund und Sieglinde ihre gemeinsame Vergangenheit heraufbeschwören und sich auf einmal als Kinder in ihrem alten Kinderzimmer sehen. Für diesen äußerst stimmungsvollen Regieeinfall gebührt Schwarz Lob. In hohem Maße passend war auch der Moment, in dem Sieglinde während ihrer großen Erzählung von ihrer verunglückten Hochzeit mit Hunding zu den Klängen des Walhall-Motivs die die Götterburg symbolisierende Pyramide hervorholt. Auf deren Grund befindet sich ein kleiner schwarzer Revolver, der hier an die Stelle von Nothung tritt.
Wie bereits im Rheingold hat Schwarz auch in der Walküre wieder sämtliche mythischen Gegenstände kurzerhand eliminiert. Auch Wotan trägt an Stelle des konventionellen Speers eine Pistole, mit der er am Ende des zweiten Aufzuges Siegmund eigenhändig erschießt. Bereits zu Beginn des Aufzuges gibt es eine Leiche: Freia hat wohl aufgrund ihres im Rheingold erlittenen Traumas Selbstmord begangen und liegt nun in einem Sarg, der von einer teilweise laut klagenden Trauergemeinde umgeben wird. Interessant war, dass Fricka gleich anschließend Hunding mit sich in Wotans Domizil bringt, um durch die Vorführung des Opfers des Ehebruches der Geschwister ihrer Forderung den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Auch das ist wieder ein gelungenes Tschechow‘sches Element, das viel zur Kurzweiligkeit des Abends beitrug. Dasselbe ist der Fall, wenn Wotan und Fricka der Todesverkündigung beiwohnen. Hunding erfährt in Schwarz‘ Interpretation eine immense Aufwertung. Am Ende des zweiten Aufzuges überlebt er. Der Regisseur scheint der Stärke des durch Siegmunds Tod stark leidenden Wotan zu misstrauen und nimmt ihm die Kraft. Er ist nicht mehr fähig, Hunding zu töten. Dieser verlässt die Bühne unbehelligt. Diese Idee war zwar nicht mehr neu, aber sehr effektiv.
Ebenfalls nicht mehr neu war der Einfall, Brünnhildes Pferd Grane als Menschen darzustellen. Kurzerhand machte Schwarz aus ihm einen langhaarigen jungen Assistenten der Walküre, der obendrein anscheinend in seine Herrin verliebt ist. Er ist es, der auf Befehl Brünnhildes die schwangere Sieglinde am Ende des zweiten Aufzuges erst einmal in Sicherheit bringt. Auch im dritten Aufzug ist er präsent. Der Walkürenritt findet in einer Schönheitsklinik statt, in der die kleinen Walküren alle mit verbundenen Köpfen erscheinen. Augenscheinlich haben sie sich gerade erst einer Schönheits-OP unterzogen und sich Gesicht und Nase richten lassen. An die Stelle ihrer Rosse tritt eine Reihe von stattlichen Callboys. Einer der Walküren wird von dem wütenden Wotan kurzerhand der Verband abgerissen. Der Gott wird indes im Lauf des dritten Aufzuges immer schwächer. Am Ende liegt er vor einer Lamellenwand erschöpft auf dem Boden – ein unheimlich starkes Bild, das Schwarz alle Ehre macht. Der abschließende Feuerzauber zeichnet sich durch Reduktion aus. Eine große, irgendwie geartete Feuersbrunst gibt es hier nicht. An ihre Stelle tritt eine einzige kleine Kerze, die Fricka von einem Bediensteten auf einem Teewagen auf die Bühne schieben lässt. Auf diesem befindet sich auch eine Flasche Wein samt zwei Gläsern. Fricka will mit Wotan auf den Sieg von Anstand und Ehre anstoßen. Der Göttervater aber verweigert das, leert den Wein aus, nimmt – im wörtlichen Sinn – seinen Hut und geht ab. Bereits jetzt ist er zum Wanderer geworden, der er eigentlich erst im Siegfried sein wird. Insgesamt haben wir es bei Schwarz‘ Inszenierung mit einer äußerst kurzweiligen, sehr unterhaltsamen Angelegenheit zu tun, die zu Unrecht ausgebuht wurde.
Einige kräftige Buhrufe musste an diesem Abend Cornelius Meister am Pult des Bayreuther Festspielorchester s einstecken. Und das zu Recht. Seine Leistung war lediglich mittelmäßiger Natur. Aufgrund etwas zu langsamer Tempi zerfiel der erste Aufzug musikalisch in zahlreiche Einzelteile, ohne eine durchgehende musikalische Linie erkennen zu lassen. Im zweiten Aufzug wirkten die Tempi dann organischer. Der Walkürenritt des dritten Aufzuges geriet Meister indes zu leicht und pauschal. Dieser hätte markanter ausfallen können. Positiv ist zu konstatieren, dass der Dirigent nie zu laut wurde und den Musikern auch schöne leise Töne zu entlocken wusste. Nicht immer stimmte der Kontakt zu den Sängern.
Das war insbesondere bei dem Wotan von Tomasz Konieczny, der nicht nur einmal tempomäßig etwas falsch lag, der Fall. Die enorme Wucht, die der über gut gestütztes, enorm starkes Stimmmaterial verfügende Bass-Bariton dem Obergott angedeihen ließ, war schon imposant. Dass auch er beim Schlussapplaus mit einigen Buhs bedacht wurde, lag wohl an den verwaschenen Vokalen sowie an der extrem schlechten Textverständlichkeit. Als Fehlbesetzung für die Brünnhilde erwies sich Iréne Theorin, die stark dazu neigte, die Luft gegen den Kehlkopf zu schlagen, woraus eine überaus unruhige, vibratoreiche Tongebung mit nicht gerade angenehm anzuhörenden Spitzentönen resultierte. Nicht überzeugen konnte in der Rolle des Siegmund Klaus Florian Vogt, dessen weißer, überhaupt nicht solide im Körper verankerter und allzu dünner Tenor eine arge Hypothek für diese ein stabiles baritonales Fundament erfordernde Partie darstellte. Für die überaus prächtig singende und großen vokalen Glanz verbreitende Lisa Davidsen war es als Sieglinde ein leichtes, ihn um Längen zu übertreff en. Der Hunding von Georg Zeppenfeld zeichnete sich durch eine hervorragende Linienführung, ein prächtiges Legato sowie eine phantastische italienische Technik aus. In der Rolle der Fricka schien die über voluminöses, imposantes Mezzo-Material verfügende Christa Mayer manchmal fast in konventionelle Gestaltungsmuster abzufallen. Aber wie gesagt: Nur fast. In dem aus Kelly God (Gerhilde), Brit-Tone Müllertz (Ortlinde), Stéphanie Müther (Waltraute), Christa Mayer (Schwertleite), Daniela Köhler (Helmwige), Stephanie Houtzeel (Siegrune), Marie Henriette Reinhold (Grimgerde) und Katie Stevenson (Rossweisse) bestehenden Ensemble der kleinen Walküren vernahm man Gutes und nicht so Gutes. Mäßig schnitten insbesondere die Damen God und Stevenson mit ihren nicht im Körper sitzenden Stimmen ab. Lob gebührt Frau Köhler, auf deren Brünnhilde im Siegfried man schon gespannt sein kann.
Ludwig Steinbach, 27.8.2022