Bayreuth: Interview mit Hans Martin Gräbner zu „Tristan und Isolde“

In Bayreuth ist er eine echte Instanz – der Musikwissenschaftler und Komponist Hans Martin Gräbner führt im Rokoko-Saal des Steingraeber & Söhne-Haus (Friedrichstr. 2, 95444 Bayreuth) jeden Tag um 11 Uhr vor einer Aufführung im Festspielhaus in die jeweilige Oper ein.
Solche Einführungen in Wagners Werke gibt es reichlich in Bayreuth, aber Gräbners Vormittage sind etwas ganz Besonderes, weil er ungemein charmant, humorvoll und kenntnisreich Musik, Inhalt und Entstehungsgeschichte der jeweiligen Oper vorstellt. Er spielt mit Hingabe auf dem Liszt-Flügel und singt dazu, ganz gleich, ob Tenor- oder Baritonpartie.
Wagner-Neulinge nimmt Gräbner gleichsam an die Hand und erleichtert ihnen so den Zugang zu den komplexen Kompositionen, „vorgeschädigte“ Wagnerianer erhalten immer wieder neue Einblicke auch in Werke, die sie gut zu kennen glauben. Es macht einfach Freude, Gräbner zuzuhören und zu erleben, mit welcher Leidenschaft, aber auch kritischen Bemerkungen er sich dem Werk des „Meisters“ hingibt.
Vorbestellungen oder rechtzeitiges Kommen sind in jedem Falle empfohlen!

Andreas Ströbl (stehend) und Hans Martin Gräbner (am Flügel) / © Regina Ströbl

Andreas Ströbl bat Hans Martin Gräbner um ein Interview zu „Tristan und Isolde“.

A S.: Lieber Herr Gräbner, sprechen wir über Wagners „Tristan und Isolde“. Ich habe mich neulich zu der Bemerkung hinreißen lassen, man könne dieser Oper nichts vorwerfen, weil weder irgendwelche Tümelei, noch typisch Wagner´sches Sendungsbewußtsein, pathetisches Heldentum oder die Suche nach einer Erlöserin zur eigenen Rettung darin festzustellen sind. Der „Tristan“ läßt sich nicht politisch instrumentalisieren, es ist eine Feier der Ich-Überwindung und des Versinkens in die universale Liebe. Allerdings kann diese Musik schnell süchtig machen. Worin besteht Ihrer Meinung nach der „Suchtfaktor“ in der Tristan-Musik?

H. M. G: Ganz klar in ihrer emotionalen Sogwirkung! Allerdings muss ich rasch noch in Ihre Frage reingrätschen (lacht). Wo sehen Sie denn in Wagners Opern „Tümelei“ oder „pathetisches Heldentum“?

A S.: Ganz spontan würde ich die „Tümelei“ im Finale der „Meistersinger“ sehen, wo das Wort „deutsch“ ja inflationär gebraucht wird. Schon klar, es geht um Abgrenzung von Paris, so wie wir heute Hollywood kritisieren. Aber wir wissen, wie man das instrumentalisieren kann. Ein Thema für sich.

Die Gefahr pathetischen Heldentums würde ich zum Beispiel im Lohengrin sehen; es kommt aber darauf an, wie man den inszeniert und z. B. das Vorspiel zum 3. Akt spielt. Vielleicht hänge ich da aber auch schon zu sehr in der gerne polarisierenden Rezeption. Die Lohengrin-Musik liebe ich ohne Einschränkung!

H. M. G: Wer will, kann in alle Wagnerschen Werke und Figuren negative Aspekte hineinlesen, aber Sie haben schon recht, die Gefahr ist beim „Tristan“ eher klein, obwohl man in Anbetracht der Verherrlichung einer ehebrecherischen Liebe durchaus den moralischen Kompaß zum Kreiseln bringen könnte.

Um auf ihre Frage zurückzukommen, ich denke, kaum eine andere Musik drückt Sehnen, Begehren, Lieben ähnlich grandios aus wie diese, wobei ich auch Menschen kenne, die dagegen völlig immun sind, das Stück schlicht langweilig finden…aber…sind das MENSCHEN?

A S.: Wie schafft es Wagner, daß der „Tristan“ auch einen Opern-Titan wie Verdi, in, wie dieser selbst sagte, „schauderndes Staunen“ versetzt? Richard Strauss empfand die Oper sogar als „höchste Erfüllung der 2000-jährigen Entwicklung des Theaters“. Was macht diese Musik so erhaben?

H. M. G: „Erhaben“ würde ich ja eher für den Parsifal verwenden, aber die Sonderstellung des Tristan liegt hauptsächlich in der Harmonik. Dieses ewige Hinauszögern einer Auflösung, diese beharrlich bis sture Verweigerung auch nur eines Halbschlusses, dieses unstillbare Weiterströmen entfesselt eine ungeheure Energie, die, bei allem Respekt, einem Verdi schlicht nicht zur Verfügung stand. Bei Strauss liegt die Sache anders, der konnte, im Gegensatz zu Wagner, der genial, aber in kompositorischer Hinsicht ja Autodidakt war, handwerklich so gut komponieren, daß ihm in diesem Überfluß der Mittel oft der Blick fürs Unmittelbare verlorenging. Technisches Virtuosentum macht noch keinen unmittelbaren Zugang, aber genau den hat Wagner zu unseren Herzen!

A S.: Es geht hier ja um das Ineinander-Verschmelzen in tatsächlich religiöser Dimension, um das Auflösen des Ich in ein diffuses „Wir“. Wenngleich die sexuelle Vereinigung deutlich hörbar komponiert ist, wird diese ja auf eine höhere Ebene transzendiert. Sie haben in Ihrer Einführung am 3. August auf die aufregende Offenheit des Librettos an folgender Stelle hingewiesen: „Gib Vergessen, daß ich lebe; nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich los!“. Gesellt sich zu der sinnlich-körperlichen Ebene nicht auch die übergeordnete, in dem Sinne, daß die Liebe selbst gleichsam einer Gottheit angerufen wird? Ist dieser Schoß also auch im weiteren Sinne, also quasi-religiös zu verstehen?

H. M. G: Ganz klar ja! Der Liebe als „schönstem aller Träume ein Denkmal zu setzen“ war Wagners Absicht mit dem Tristan und beim Parsifal, der ja ganz oft als religiöses Werk mißverstanden wird, schreibt er: „Woran geht unsere Welt zugrunde, als an dem Mangel an Liebe!“. Die Liebe, und zwar in jeder erdenklichen Form, hat die Kraft, die Religion zu ersetzen, sie ist göttlich und laut Brangäne müssen wir ihr auch gehorchen! Mir fällt noch die Stelle in der Götterdämmerung ein, wo in der zweiten Szene des Vorspiels das Thema für die Liebe zwischen Brünnhilde und Siegfried ertönt, da hat Wagner als Bemerkung notiert: „Wie die Verkündung einer neuen Religion!“ – und das könnte man über den kompletten Tristan schreiben!

A S.: Nun sind wir schon bei der Religion. Bekanntlich hat Wagner im „Parsifal“ buddhistische und hinduistische Elemente mit den christlichen Aspekten vermengt. Das paßt ja zu Wagners Kunstreligion mit ihrem typischen Synkretismus. Und Ihre Hinweise auf das Weihevoll-Nächtliche im „Tristan“ – man denke nur an die Schlüsselszene „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ – entspricht Wagners Aufzeichnungen aus dem Jahr 1868, wo er die Nacht mit der Wahrheit und dem Nirwana gleichsetzt. Roland Schwab hat folgerichtig das Sanskrit-Wort „Shashvatam“, was „für immer“ bedeutet, neonrot-leuchtend am linken unteren Bühnenrand plaziert. Werden die buddhistischen Aspekte im „Tristan“ in der Rezeption noch zu wenig gewürdigt?

H. M. G: Um wirklich stark vom Buddhismus geprägt zu sein, ist der Tristan ja denn doch zu sinnenfroh, ich denke, da hat dann doch Wagners private Überzeugung gesiegt, er will DURCH Liebe erlösen, nicht VON Liebe, wie im Buddhismus oder bei Schopenhauer. Nichtsdestotrotz fließt natürlich gerade in die lange Tag – Nacht – Szene buddhistisches Gedankengut ein, wobei diese Aufzeichnungen im braunen Buch ja weit nach dem Tristan entstanden sind.

Aber die intensive Beschäftigung mit dieser Gedankenwelt, die ja, angeregt durch Schopenhauer, genau in die Zeit der Tristan-Konzeption fällt, findet, noch katalysiert durch den ständigen Austausch mit Mathilde Wesendonck, gewaltigen Niederschlag in der Tristan-Dichtung.

Die Idee von Roland Schwab, dieses „FÜR IMMER“ als quasi-Motto auf der Bühne zu zeigen, finde ich, wie überhaupt die ganze Produktion, grandios!

A S.: Was meinen Sie, wie hätte die Musik von Wagners geplanter Buddha-Oper „Die Sieger“ geklungen? Er sah die Schwierigkeit der Umsetzung ja eher in der Darstellung des Lokalkolorits mit, wie Cosima beschreibt, „Mango-Bäumen, Lotos-Blumen etc.“, und dem Verfassen eines Librettos, das dem von Wagner so empfundenen Bildungsanspruch des Buddhismus hätte genügen müssen. „Im Buddhismus ist soviel Bildung, und Bildung ist sehr unkünstlerisch“, so Wagner. Haben Sie eine Idee, wie er im ausgehenden 19. Jahrhundert der Lehre Buddhas bzw. der in Indien spielenden Handlung klanglich Ausdruck hätte geben können? Die indische Musik war damals ja hier nur sehr wenigen bekannt.

H. M. G: Wie soll ich eine Ahnung haben von etwas, von dem Wagner selbst keinerlei Vorstellung hatte? Ich denke, das ist auch einer der Gründe, warum es nie zur Ausführung kam, abgesehen davon war das Thema mit dem Parsifal erschöpft, da haben Sie Askese, Wiedergeburt, Mitleid, Erlösung, Naturliebe… Die Überschneidungen waren dann doch so groß, dass eine Ausarbeitung der „Sieger“ sich schlicht nicht mehr gelohnt hat, obwohl…darüber nachgedacht hat Wagner ja bis kurz vor seinem Tod…

A S.: Wenn wir schon bei den Spekulationen sind: Was, glauben Sie, brauchen die Festspiele, um auch künftige Generationen begeistern zu können? Die Nichtexistenz einer modernen Marketing-Abteilung wurde gerade diesen Sommer immer wieder in den Medien beklagt. Und Neu-Wagnerianer ebenso wie Nicht-Muttersprachler beklagen das von manchen als altmodisch beklagte Beharren der Leitung, keine Übertitel einzublenden. Ist diese Haltung des „Wer nach Bayreuth kommt, kennt natürlich das Libretto“ noch zeitgemäß?

H. M. G: Nein, ist sie nicht, und ich weiß nicht, ob es die je gab. Es gibt ja Sänger, bei denen Sie jedes Wort verstehen (ja, auch unter den weiblichen!), bei den anderen muss eben daran gearbeitet werden, insofern ist das in meinen Augen kein altmodisches Beharren, sondern ein Konzentrieren auf die Bühne, was allerdings ja bei manch anderem neumodischen Beiwerk durchaus nicht leichter gemacht wird.

Ich glaube auch nicht, daß ausgerechnet eine Marketing-Abteilung die Probleme lösen würde, außer vielleicht die rein organisatorischen beim Kartenverkauf.

Was mich eher zweifeln läßt, ist eine Haltung, die, nicht nur in Bayreuth, inzwischen so verbreitet ist, daß sie als selbstverständlich hingenommen wird, was sie nicht sein sollte: Nämlich, daß „Interpretation“ meist als Selbstverwirklichung auf dem Rücken des Autors verstanden wird, nicht als „Übersetzung“ seiner Absichten. Das hat nichts mit Traditionalismus zu tun, sondern mit Respekt vor einem der größten Genies der Musik- und Theatergeschichte, ich glaube auch nicht, daß Werktreue Dummheit ist, sondern genau das, Respekt! Und das heißt natürlich nicht, daß die Regie nicht eigene Ideen haben darf, aber sie sollten dem Werk helfen – und dem Publikum, selbiges zu verstehen! Die Banalisierung und damit einhergehende bewußte Entzauberung des Wagnerschen Werkes, die wir auch in Bayreuth größtenteils sehen (ich nehme den „Tristan“ ausdrücklich aus!), wird kaum neues Publikum anlocken; die Gefahr, das bisherige zu vergraulen, ist aber sehr hoch!

A S.: Lieber Herr Gräbner, herzlichen Dank für das interessante und erhellende Gespräch!


Tristan und Isolde in der Inszenierung von Roland Schwab ist heute zum letzten Mal im Bayreuther Festspielhaus zu sehen.