Spaß, Spaß, Spaß – die irdische Erlösung des Bayreuther Minnesängers
Nach der teils völlig entgleisten, lahmen „Ring“-Gestaltung von Bayreuth-Frischling Valentin Schwarz – ein zäher Bühnen-Brocken, welcher aufgrund einer schwer nachvollziehbaren Logik irgendwann genau deswegen „Kult“ zu werden droht – nun dies: Eine kleine Kette geglückter Wagner-Inszenierungen versöhnt den gekränkten Opernfan mit dem weltberühmten Grünen Hügel. „Lohengrin“, „Holländer“ und der in die dritte Runde gehende „Tannhäuser“ trafen beim leidgeprüften Publikum auf ungeteiltes Entzücken. Statt eines Shitstorms bis hinunter in die Tiefen des Rheins quittierten die Zuhörer den frisch-fröhlich-beschwingten „Aufguss“ des berühmten Wagner`schen Ritter-Epos` mit stehendem Applaus.
Schuld und Sühne, Liebe und Verlangen, Leid und Erlösung. Die kräftig mit Moralin angereicherten Themen des „Tannhäuser“ sind zeitlos. Sie verlangen nach einer Antwort – die im sich stetig drehenden Rad der Geschichte zwei christliche Jahrtausende lang fast zwangsläufig religiös ausfiel. In der Art: Wer Gott als Zentrum des Weltalls und Richter der Seelen nach dem Tod bezeugt, der wird sein Handeln bereits im Diesseits mit Demut der kirchlichen Keule unterwerfen. Zwecks gnädiger Unterstützung oder auch Vorsorge bezüglich der irgendwann zu erwartenden, jenseitigen Abrechnung ihrer Taten bemühten Katholiken stets gerne die Gottesmutter. Was etwa auch in Tannhäusers bekanntem Bekenntnis aus dem ersten Aufzug seinen Niederschlag findet: „Mein Heil ruht in Maria!“ In der postmodernen Ära, in welcher die transzendentalen Sinngebungen mehr und mehr zerfließen und längst das Individuum zum Kompass seiner selbst geworden ist, fällt die Frage nach Schuld oder Sinn hingegen weit individueller aus; was die Bredouille nicht unbedingt leichter macht! Kaum jemand befürchtet mehr eine für ihn möglicherweise peinliche, postume Sündenschau. Wie aber die durch den Nietzsche`schen Nihilismus, die bis auf den Nanometer exakte Wissenschaft und ein immer größeres, allgemeines Ich- und Selbstbewusstsein entstehende Sinnlücke füllen? Wenn der Mensch doch weiterhin fehlbar ist und im Wankelgang des Lebens zwangsläufig in ethische Verwerfungen gerät? Gibt es dann überhaupt noch einen glaubwürdigen Maßstab für unser Tun?
Tobias Kratzer, dem Regisseur dieser wiederaufgenommenen, fünften vollendeten Wagner-Oper, fällt es gar nicht ein, darauf eine Antwort zu geben. Es scheint dem – inzwischen – Bühnen-Routinier schlichtweg schnuppe zu sein, was frühere Generationen um ihren Schlaf brachte: Vor allem die den Wittenbergischen Mönch Martinus Luther zu Beginn des 16. Jahrhunderts quälend umtreibende Frage: „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“. Weder vor dem Bühnenbild des Wartburg-Sängersaals im zweiten Akt seines Tannhäusers noch in den lustvollen Katakomben der Venus oder auch im heiligen Sich-Aufopfern der ach so heiligen Angebeteten Elisabeth gräbt der heute 42-jährige verkrampft nach einem Sinn. Das hat der Niederbayer mit dem Hang zur Baseball-Cap auch gar nicht nötig, wie sich im Verlauf des Abends noch herausstellen soll.
Sein Knallbonbon einer Inszenierung umhüllt die Zuschauer im Saal des Opernhauses von Anfang an mit einer Ausnahmeportion Charme, der man gut unterhalten praktisch alles vergibt. Angesichts dieses schieren Vergnügens in drei Akten wird niemand Lust verspüren, sich aufgrund religiöser oder sonstiger Content-Fragen gewellte Grübelfalten auf die Stirn kriechen zu lassen: Der innere Hader, ja der Abgrund des Sängers und Ritters aus dem 13. Jahrhundert, sein ängstliches Suchen nach Vergebung lösen sich im Bayreuther Festspielhaus auf in puren Spaß. Fast bis zuletzt – doch der Reihe nach.
Gleich zu Beginn eiern der Titelheld (Stephen Gould, stimmstark) und Venus (spiel- und gesangsfreudig: Ekatarina Gubanov) als Clowns maskiert zusammen mit der schrillen britischen Dragqueen Le Gateau Chocolat sowie dem kleinwüchsigen Oskar (unübersehbar in Anspielung auf Günter Grass: Manni Laudenbach) in einem Oldtimer-LKW durch die Lande. Die Stimmung ist ausgelassen – die Kratzer`sche Version des tollen Venusbergs eben. Die Insassen der Rostlaube bekommen irgendwann Hunger, doch der mittransportierte Fresskorb ist leer. An einer Burgerbude zeigt sich das quirlige Quartett dann allerdings schwer schockiert über die ausgeuferte Rechnung. Das Geld haben sie leider nicht, und so überfährt die lebenslustige Venus in einer Spontanreaktion einen Polizisten, der sich ihnen zwecks Geldeintreibung in den Weg gestellt hat. Hier ist sie wieder, die Konfrontation mit der Schuld. Ganz anders als bei Tannhäuser und seinem Schöpfer Wagner stellen sich diese ganz im Augenblick lebenden Figuren jedoch explizit nicht ihren Taten, sondern galoppieren lautstark weiter in die nächste Szene.
Und auch da findet sich das Leitthema von Sünde/ Schuld und der dazugehörenden Bestrafung in unsichtbaren, großen Lettern wieder. Frau Holle, charakterisiert durch ihr riesiges Kissen, lehnt sich aus dem Fenster eines strohgedeckten Märchenhauses. Wir erinnern uns n die Quintessenz dieses allseits bekannten Grimm`schen Märchens aus dem 19. Jahrhundert: Die gute, superfleißige Goldmarie wird belohnt, hingegen wird ihre Schwester – eine schlechte, faule Erscheinung, vermutlich mit Beziehungen zur Gewerkschaft – mit einer ekligen Pechdusche schlussendlich abgestraft. Der mahnende Zeigefinger des Regisseurs schnellt schließlich erst im dritten und letzten Aufzug ein wenig hoch. Elisabeth, die liebestechnisch dummerweise zwischen Tannhäuser und seinem Sanges-Rivalen Wolfram steckt. Als sie den nutz- und erfolglos nach Rom gepilgerten Tannhäuser nicht kriegt, lässt sie sich auf eine schnelle Nummer mit Wolfram von Eschenbach ein. Um sich anschließend, von der eigenen Sünde überwältigt, in einer Art Blutrausch zu erstechen. Endlich sieht man die männliche Titelfigur, der endgültig nicht mehr in den Schoß der Venus zurückkehrt, mit der toten Elisabeth im Schoß, over.
Bei seiner persönlichen Gestaltung des stellenweise betonschweren Stoffs kam Kratzer sicherlich der Umstand entgegen, dass er dieses Werk bereits 2011/12 am Theater Bremen auf dem Bühnenboden gebracht hatte. Nun also, mit leichtem Makeover, eine romantische Oper als Gesamtguss: Es sitzt, wackelt, passt und hat Luft. Das Geschehen auf der Bühne verläuft harmonisch angeordnet und bis ins Detail durchdacht – wirkt aber glücklicherweise niemals aufdringlich oder übertrieben. Dabei hat sich das Produktionsduo Tobias Kratzer und Axel Kober (musikalische Leitung) dieses Mal im Vergleich zu den Vorgänger-Produktionen die eine oder andere Marginalie gespart. Ein bisschen wurde hie und da aufgehübscht, szenisch auf den Punkt gebracht und mit Bedacht herumgeschoben. Herausgekommen ist ein knackiges Gesamtkunstwerk, für dessen Wirkung es wohl gar nicht nötig gewesen wäre, gleich zwei ziemlich drastische Sex-Szenen hineinzuschmieden.
Tobias Kratzers vor Freude strahlende Tannhäuser versöhnt dennoch auch konservative Operngänger mit den aktuellen, poppigeren Bühnen-Versionen. Und erscheint trotz allen schrillen Einschüben wie eine gut annehmbare Lektion in Sachen Lebenslust. Die Erlösung im Diesseits würde ein Tannhäuser des 21. Jahrhunderts vielleicht in prickelnder Unterhaltung finden. Mit dieser flirrenden Bayreuther Inszenierung wäre der sinnsuchende Ritter also durchaus gut bedient. So wird die Spannung unter anderem durch eingeblendete Schwarz-Weiß-Szenen über der Bühne (Rainer Sellmaier) wachgehalten. Stets aus einer weiteren Perspektive als der des Zuschauers wird dieser so beinahe dazu gezwungen, seine sonstigen (Seh-)Gewohnheiten aufzubrechen oder zu überdenken. Und damit seine gewohnten, eingefahrenen Gedankenläufe zu überdenken.
Im Einzelnen hervorzuheben ist erneut die Spiellust des Festspielorchesters mit dem bereits erwähnten Axel Kober an der Spitze. Stimmgewaltig resonieren dazu die Pilgerchöre (Leitung: Eberhard Friedrich). Etwas mehr Nachdruck hätte allenfalls dem Sängerkrieg des 2. Akts verliehen werden können. Hingegen zeigte das Ensemble beim Chor „Einzug der Gäste“ sowie dem „Schwert-Chor“, dass bei den Ensemble-Mitgliedern stimmlich meist wenig Luft nach oben ist. Als Tannhäuser legte sich der bereits erwähnte Stephen Gould enorm ins Zeug. Der US-Amerikaner war noch am Samstag aufgrund von Krankheit für die Darbietung des Siegfried in der „Götterdämmerung“ ausgefallen. Am Montagabend gefiel insbesondere seine machtvolle Intonation der Romreise, in welche er sichtlich seine gesamte vokale Energie legte. In der Rolle des Wolfram lieferte Markus Eiche eine gelungene, ausgefeilte Darbietung ab. Ekaterina Gubanova überzeugte durch ihr flirrendes, sehr selbstbewusstes Spiel, hätte allerdings gesanglich hier und da noch etwas mehr Gas geben können. Hingegen demonstrierte die 35-jährige, norwegische Sopranistin Lise Davidsen als reine, ätherische Elisabeth ein in allen Lagen glockenklares Timbre. Die Fangemeinde in Bayreuth bedankte sich mit lang anhaltendem Applaus, der an diesem Abend allen Mitwirkenden selten großzügig erteilt wurde.
Daniela Egert 12.8.22