Frankfurt: „Orpheus“, Georg Philipp Telemann

Premiere am 25.05.2014

Polystilistische Oper auf ganz modern und dennoch „werktreu“

Dass Georg Philipp Telemann einer der produktivsten deutschen Komponisten im Bereich der Instrumental- und Kirchenmusik (allein 1750 Kantaten) war, hat ihn als Vielschreiber suspekt gemacht. Nach seinem Tode wurde die Musik des zu seinen Lebzeiten in der ganzen Musikwelt berühmten Komponisten fast vergessen; selbst an der Barockmusik-Renaissance hat er nicht in gleichem Maße teilgenommen wie seine Zeitgenossen Bach und Händel. Als Opernkomponist ist Telemann weniger bekannt, obwohl etwa 50 Werke seiner Feder entstammen, überwiegend komischen Opern, von denen die meisten verloren gegangen sind. Heute begegnet man Telemann auf den Opernbühnen nur noch selten. Da Telemann in seiner Hamburger Zeit auch zum Leiter des Opernhauses am Gänsemarkt bestellt wurde, fand hier sein Opernschaffen seinen Höhepunkt. Das Gänsemarkttheater verfügte über 2.000 Plätze (bei einer Einwohnerzahl von ca. 75.000 für Hamburg zur gleichen Zeit; daraus erhellt, was für eine enorme Bedeutung das Theater hatte). Theater- und Opernstoffe dienten nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Erbauung und Belehrung. Der Alternativtitel von Telemanns Orpheus-Oper lässt dieses Moralisieren und Belehren erahnen. Die Oper wurde 1726 konzertant uraufgeführt; erst 1736 folgte eine szenische Produktion unter dem Titel „Die rachbegierige Liebe oder Orasia, verwitwete Königin in Thracien“. Den Text hatte Telemann selber nach einer französischen Tragödienvorlage verfasst.

Auf der Oberwelt:

im Vordergrund Elizabeth Reiter (Orasia) und Maren Favela (Cephisa; rechts aus dem Bild rennend) sowie im Hintergrund den Konzertchor Darmstadt

Zum bekannten Orpheus-Mythos und den bekannten beteiligten Personen und Göttern ist in Telemannns Orpheus Orasia, die thrazische Königin, als fiktive Person hinzugefügt: Die erweitert die trauliche Zweierbeziehung des liebenden Paares zu einer Dreiecksbeziehung: Orasia betet Orpheus an, wohl wegen seiner musischer Künste. Der will aber nicht von seiner Eurydike lassen. So verhilft Orasia dieser aus Eifersucht zu dem notorischen Schlangenbiss und zum Tod. Als Orpheus allein aus der Unterwelt zurückkehrt (die Geschichte ist bekannt), kommt kein Deus ex machina, um ihm dennoch wieder zu Eurydike zu verhelfen (eine „gottlose“ Geschichte also), sondern die ob seines Missgeschicks zunächst erfreute Orasia begehrt ihn aufs Neue. Da er sie wieder zurückweist, lässt sie ihn aus Rache von Bacchantinnen zerfleischen. (Eine Anlehnung an einen Zweig der Orpheus-Sage, nach welchem er von den Mänaden getötet wurde, die sich an ihm rächen wollten, da er inzwischen homosexuell geworden war.) So geht dieses Spiel also um Liebe, Eifersucht, Rache, doppelten Mord und Moral – Zutaten, aus welchem Opernstoffe geschnitzt werden.

in der Unterwelt:

Dmitry Egorov (Ascalax), Katharina Ruckgaber (Eurydike) und den Konzertchor Darmstadt

Die Inszenierung von Florentine Klepper fasst diese Zutaten zu Recht als zeitlos auf und stellt sie in einen modernen Rahmen. Auf der fast die ganze Breite des Bockenheimer Depots überspannenden Bühne sieht man zuerst eine läppische Spaß- und Feiergesellschaft in einem Salon; die blasierte Hausherrin Orasia hält in der Bussi-Bussi-Gesellschaft Hof; mitgebrachte Geschenke in Glitterkartons reicht sie gelangweilt gleich ans Personal weiter. Ihre Bedienstete Cephisa wird nicht gerade gleichberechtigt behandelt. Orpheus erscheint mit seinem Freund Eurimedes als „kult“voll singender und hüftwackelnder Entertainer. Rechts sieht man einen Hain, aus welchem Eurydike erscheint. Orasia hat eine lebende Schlange und setzt sie entsprechend ihrer Eifersucht zielgerichtet ein. Sollte sie geglaubt habe, dass Orpheus sich nun ihr zuwendet, hat sie sich getäuscht, denn der zieht ab in die Hölle, um seine Geliebte zurückzuholen. Der Feiersalon versinkt „wie durch ein Erdbeben“ (Wagner könnte diese Szene beim Untergang von Klingsors Schloss Modell gestanden haben – oder umgekehrt). Es erklingt ein schauerliche Verwandlungsmusik, und schon ist Orpheus dem Pluto und seinem Gehilfen Ascalax ausgeliefert – in einem finsteren von Stahlstreben gebildeten Raum (Bühnenbild: Adriana Westerbarkey). Auf dem Rückweg verliert Orpheus den Hörkontakt zu Eurydike und dreht sich um; fatale Folgen. Fortsetzung: siehe oben. — Frau Westerbakey zeichnet auch für die Kostüme mit einer großen, überwiegend funktionalen Spannbreite verantwortlich. Der Schlagersänger mit Jacke über nacktem Oberkörper, die Spaßgesellschaft in bunter Abendrobe, die Bedienstete in schwarzer Servierkleidung; Ascalax als Fantasiefigur mit schwarzen Stacheln auf dem Rücken an Krücken gehend und Pluto auf hoher Leiter mit überlangen Beinen, die leider gelähmt sind: im Hades ist die Welt nicht in Ordnung.

Katharina Ruckgaber (Eurydike)

Die in Frankfurt gegebene Fassung von Telemanns Orpheus basiert auf der von Peter Huth für die Innsbrucker Barockwochen 1994 Jahren für René Jacobs erstellte Rekonstruktion des Werks, ist aber noch weiter bis auf ein Fernsehformat von etwa 100 min gekürzt. Hier liegt vielleicht der einzige anmerkenswerte Nachteil der Produktion. Denn durch die Kürzungen kommt es einig Male zu sehr abrupten Schnitten – ähnlichen wie in filmischen Überblendungen. Ansonsten erlebt man anregendes Musiktheater mit scharfen Charakterzeichnungen sowie kontrastierenden szenischen und musikalischen Ereignissen und Stimmungen. Ganz im Sinne der geistigen Väter de Werks überspannt die Oper dabei ein weites Spektrum vom Komödiantischen zum Tragischen, wobei auch die moralisierenden Einlagen nicht fehlen – zum Teil als Gesellschaftsironie verpackt, hier gutmütig und nicht zu dick aufgetragen. Szenisch ein voller Erfolg.

Elizabeth Reiter (Orasia)

Das lässt sich auch von der musikalischen Seite sagen. Da am Gänsemarkttheater der weltoffenen Freien und Hansestadt Hamburg die italienischen Opern des Telemann-Freundes Händel ebenso aufgeführt wurden wie die französische tragédie lyrique (Telemann verbrachte etliche Zeit auf einer Studienreise in Frankreich) und das deutsche Singspiel sowie Reinhard Keisers gemischte Moral- und Musikspiele, war das Publikum nicht auf eine Stilrichtung festgelegt. Telemann gelang es, in seinen Orpheus gleich vier davon aufzunehmen – je nach Situation. Die affektbezogene Bravourarie wird auf Italienisch gesungen; die düstere tragische Stimmung der Unterwelt mit französisch-sprachigen Chören behandelt ebenso wie ein rührendes Lamento; dazu kommt aus dem deutschen Genre das Lied- und Singspielhafte und davon wieder abgehoben der erbauende protestantische Kantatenton. Damit man dem Ganzen als deutscher Muttersprachler gut folgen kann, sind die Rezitative, ob accompagnato oder secco in deutscher Sprache gestaltet – sowie natürliche alle Erbauungs- und Moraltexte in Richtung des Publikums.

Sebastian Geyer (Orpheus) und Julian Prégardien (Eurimedes)

Vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester war eine recht große Streicherdelegation abgestellt, zu der sich zur farblichen Aufmischung nur wenige Holzbläser gesellten; dazu Orgel, Cembalo und Trompete; alles Originalinstrumente der Epoche. Titus Engel hatte die musikalische Leitung des Abends inne, ließ mit großer Präzision aufspielen und brachte einen elastischen, inspirierten Klang zuwege. Besonders beeindruckend war die erste Überleitungsmusik: ein Unbehagen bereitendes, lang gezogenes Crescendo über einem Trinitus, das Orpheus auf dem Weg in die Unterwelt begleitete. Bei der zweiten Überleitungsmusik war ein solch rasendes presto angeschlagen, dass man mit den Musikern fieberte. Da der Frankfurter Opernchor (ebenso wie die andere Hälfte der Streicher) zur gleichen Zeit im Frankfurter Opernhaus bei der Aufführung des Don Giovanni gebraucht wurde, hatte das Opernhaus Frankfurt für die Telemann-Produktion den Konzertchor Darmstadt verpflichtet, ein kleineres, aber durchaus klangstarkes und vor allem klangschönes Ensemble, das von Wolfgang Seeliger einstudiert war. Untypisch für einen Konzertchor trat das Ensemble in verschiedenen Kostümierungen auf und bewältigte mit sichtbarer Spielfreude auch die szenischen Herausforderungen des Opernabends zur vollsten Zufriedenheit. Die Lyra des Orpheus wurde auf der Bühne separat gezeigt, und zwar durchaus originell: Johannes Ölliger, in verschiedenen situationsabhängigen Verkleidungen spielte Gitarre, Theorbe und auch E-Gitarre, deren teuflisch jaulenden Töne natürlich in die Unterweltszene gehörten, dort aber selbst den Barock-Puristen eigentlich nicht stören konnten.

Elizabeth Reiter (Orasia) und Sebastian Geyer (Orpheus)

Alle sieben Gesangssolisten gaben ihr Rollendebüt. Zudem n ihrem Frankfurt-Debüt sang als Eurydike die erst 25-jährige Sopranistin Katharina Ruckgaber und gab sich mit ihrem jugendlichen lyrischen Sopran von feiner, klarer Intonation keine Blöße. Man wird ihren Weg gerne weiter verfolgen. Die größere Frauenrolle ist die der Orasia, die vom Frankfurter Ensemble-Mitglied Elizabeth Reiter verkörpert wurde. Sie begeisterte vor allem in den dramatischen Passagen mit stimmlicher wie szenischer Emotionalität; feiner klarer Barockgesang ist indes ihre Stärke nicht. Maren Favela in der dritten Sopranrolle der Cephisa gefiel mit ihrem samtigen, runden Ton. Sebastian Geyer gab mit leicht kehligem, kraftvollem Bariton einen stimmlich überwältigenden Orpheus. Seinen Freund Eurimedes gestaltete Julian Prégardien mit bronzenem Tenorschmelz. Vuyani Mlinde gab mit stimmgewaltigem Bass den finsteren Pluto, und die zugleich komische und eigenartige Gestalt des Ascalax verkörperte der in Frankfurt schon an vielen Abenden bewährte Dmitry Egorov mit geschmeidigem und sanft ansprechenden Countertenor.

Das Publikum der ausverkauften Premiere feierte diesen wieder einmal besonderen Abend im Depot mit enthusiastischem Applaus für alle Mitwirkenden. Weitere sieben Termine: 27.05.2014 | 29.05.2014 |31.05.2014 | 01.06.2014 |03.06.2014 | 06.06.2014 und am 08.06.2014. Viele Karten gibt es allerdings nicht mehr.

Manfred Langer, 26.05.2014 Fotos: Monika Rittershaus