Bregenz: Wow! – was für ein „Carmen“-Spektaculum!

Aufführung am 1.8.2017

Wetter: Verregnet, stürmisch, aber die Hälfte der Zeit trocken

Wissen Sie, verehrte Leser, was der größte Blödsinn aller Zeiten ist? Ich sage es gleich vorweg: Fernsehübertragungen von Freilichtopern! Was für ein Mega-Schmarrn! Egal welcher Couleur und Größe. Egal ob, pars pro toto, aus der Arena di Verona, dem Steinbruch St. Pölten, aus rgendwelchen Höhlen oder aus Bregenz. Niemals wird man auch nur ansatzweise jenes Gefühl erleben, welches solche Abende zum echten Erlebnis werden lässt, an das man sich – ganz im Gegenteil zu den meisten Opernveranstaltungen – noch lange und nachhaltig erinnert. TV ist immer ein eindimensionales Bild mit meist schlechtem Ton und man sieht nur das, was die Bildregie für bedeutend hält. Leider ist das praktisch nie (ich spreche aus vielseitigen Erfahrungen) genau das, was wichtig ist, denn wir sehen nur, was ein Einzelner uns zeigen möchte. Und dies ist meist nur ein mikroskopischer Ausschnitt aus dem großen Ganzen.

Das Fernsehbild (selbst auf großformatigen Geräten) kann die Stimmung und Atmosphäre solcher Spektakel nicht wiedergeben. Den plötzlich startenden Regen oder weitere Unbill des Wetters in Sturm, Sonne und Wolken, die jede Aufführung anders einrahmen und begleiten. Und das Wichtigste: Das Musikerlebnis unter dem Motto „Oper für alle“ ist nicht auf dem Fernsehschirm reproduzierbar. Hier treffen sich normale Menschen und erfreuen sich an klassischer Opernmusik, lernen ggf. Oper überhaupt zum ersten Mal kennen oder einfach einen Abend mal anders genießen.

Oper in Bregenz ist stets ein Spektakel – ein musikalisch, zirzensisches Gesamtkunstwerk mit Feuerwerk, Wasser und atemberaubenden Stunts. Eine zauberhafte Erlebniswelt mit der Musik von Bizet tut sich vor den staunenden Augen der Zuschauer auf. Daß dies am Ende noch kaum etwas mit Bizets ohnehin meist völlig überschätztem Werk – Folklore hin, Tiefenpsychologie oder Seelendrama her – namens „Carmen“ zu tun hat, ist völlig egal! Darum geht es ja auch gar nicht, denn auf der Giganto-Bühne ist Carmen ein kleiner roter Punkt und Don José ein kleiner gelber im wilden Wirrwarr einer Hundertschaft höchst mobiler Statisten, Künstler und Protagonisten. Hier will man das Publikum auf höchstem technisch zu realisierbarem Niveau, mit phänomenaler Tontechnik und unglaublichen dreidimensionalen Bühnenbildern einfach nur unterhalten und begeistern.

Um 7000 Leute zusammenzuhalten, muss das Ganze in zwei pausenlosen Stunden zu bewerkstelligen sein (das sind gerade einmal 2/3 vom ersten Akt der Götterdämmerung), also kürzt man die Originalopern – Gott sei Dank! Für mein Empfinden könnte man speziell dieses Werk noch mehr kürzen. Wie genial dieser Zeitrahmen ist, zeigt sich jedes Jahr aufs Neue bei diesem Erlebnis-Event, wo alle durchhalten, egal welche Überraschungen der Wettergott parat hat. Man müsste diesem tollen Publikum danken für soviel Durchhaltevermögen, oder ist es die Musik, die so fesselt, das Ambiente? Egal was, wo, wie und warum: Bregenz muss man live erlebt haben. Bitte schauen Sie es sich nicht im Fernsehen an, fahren Sie hin! Ich kenne keinen, außer ein paar esoterisch weltfremden und sauertöpfigen Opernkritikern, die hinterher nicht begeistert waren. Gönnen Sie sich einmal im Leben die Bregenzer Festspiele auf der Seebühne!

Man kann am Ende nur alle loben – dabei ist es relativ egal wer singt, denn die Mikroporttechnologie bringt stets saubere Töne rüber, solange ein bestimmtes hohes Niveau vorhanden ist, und da liegt Bregenz ganz weit vorne bei den Festivals. Wer das erste Mal dabei ist, bei dem werden die Ohren Augen machen (alter Werbespruch ;-), wenn die ersten Orchestertöne – gerade bei Bizet besonders furios – förmlich explodieren, denn was an millionenschwerer HiFi-Opern-Air-Tonanlage hier installiert ist klingt besser als manch gute Heimanlage mit Riesenboxen; und das Wunderbare, man sieht die Lautsprecher nicht. Orchester und Techniker sitzen zwar im Trockenen, aber alles kommt eins-zu-eins live rüber. Die Arbeit der grandiosen Tontechnik erlaubt es sogar die Sänger in dem Riesenbild genau zu orten.

Wenn also Micaela ganz oben in 50 Metern Höhe auf dem Finger der Kartenspielerin erscheint und singt, dann hört man sie auch von oben. Natürlich wird sie für den spektakulären Abstieg gedoubelt, was der überwiegende Teil des Publikums kaum merkt, denn das ist so perfekt gemacht, wie der Austausch der singenden Carmen in die optisch gleiche Stuntfrau, die sich dann auf der Flucht ins Wasser stürzt und davon krault. Und wenn am Ende Carmen im seichten Wasser strampelnd mit dem Gesicht nach unten solange heruntergedrückt wird, bis sie zu Tode erschlafft, dann leistet die jeweilige Sängerin Gewaltiges und selbst der abgebrühte Rezensent konnte keinen Austausch wahrnehmen; offensichtlich arbeitet man hier mit Tauchern und nicht sichtbaren Atemgeräten. Ein sensationeller Schluss.

Wie es gelingt, auf über 50 Spielkarten der Größe 4×8 Meter noch Bilder und Videos (Luke Halls) zu projizieren, bleibt auch mir ein Rätsel. Wenn sich dann auch noch einige dieser Riesenkarten bewegen und verschieben, dann ist die bühnentechnische Zauberwelt vollendet. Absolut geniale Bilder, vor allem wenn am Ende die Kartenbilder wegfließen, wie vom realen Regen verwaschen. Das passt als wenn Unwetter eingeplant wären. Auch ist es schön, wenn die Sänger hier auch wie bei Pop-Events großflächig live erscheinen. Das grandiose, wie eingefroren wirkende Bühnenbild der die Karten hochwerfenden Hände (Es Devlin) ist Oscar-preiswürdig, wäre es ein Film. Immerhin gilt Devlin schon jetzt als Megastar des Bühnenbildes und hat eine Weltkarriere bereits hinter sich – neben diversen Opernproduktionen an großen Häusern gestaltete sie 2012 die Abschlussfeier der Olympischen Spiele in London, Bühnenshows internationaler Popkünstler und Modezaren bedienen sich regelmäßig ihres Genies (u.a. Louis Vuitton, Kanye West, Lady Gaga, Beyonce…)

Kaspar Holten (Regie) trägt die Gesamtverantwortung und zeigt, dass er in der über dreijährigen Vorbereitungszeit perfekt gearbeitet hat. Die Integration von Musikdramaturgie, Ballett, Bewegungschor, Stunt-Action und Lichtkonzept ist mehr als gelungen.

Wer in Bizet Oper Tiefe, Psychologie, Seriosität, Stimmporno und Reflektion sucht, ist in Bregenz so fehl am Platz, wie der Partitur-Mitleser oder der Schellackplatten-Sammerl und Venylkenner. Die Bregenzer Carmen ist einfach nur wunderbare Unterhaltung für alle auf durchaus akzeptablem Opernniveau. Und die Geschichte wird weder verfremdet noch unwerktreu gespielt.

Ein herrlicher Abend.

P.S. an alle Besucher

Vergessen und ignorieren Sie jede Form von Wetterbericht. Wenn Sie Ihr persönliches Bregenz-Bündel geschnürt haben (Sitzkissen, Regenjacke, Mütze, festes Schuhwerk) können Sie beruhigt und frohen Sinnes sich auf den Weg machen. Und wenn es dann los geht gilt das Motto „Don´t worry be happy“ und „Never give up!“

Bilder (c) Karl Foster

Urlaubsgrüße aus Bregenz

sendet Ihr

Peter Bilsing

Credits:

BREGENZ 2016