Buchkritik: „Aktualisiertes Köchel-Verzeichnis“, Wolfgang Lienbacher

Das aktualisierte Köchel-Verzeichnis wurde am 19. September 2024 im Großen Saal der Stiftung Mozarteum vorgestellt. Bei der Präsentation wurde die Serenade in C-Dur KV 648 für zwei Violinen und instrumentalen Bass vorgespielt, das, während der Arbeiten an der Neuausgabe entdeckt wurde. Die Serenade wurde wahrscheinlich vor der ersten Italienreise komponiert, die am 13. Dezember 1769 begann. Mozarts Autorschaft ist sehr wahrscheinlich, und diese Komposition könnte mit der verschollenen Cassation in C-Dur KV 653 oder der verlorenen Kleinen Nachtmusik KV 41g identisch sein.

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Das Köchel-Verzeichnis, ein Werkverzeichnis der Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart, wurde erstmals 1862 von Ludwig von Köchel unter dem Titel »Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amade Mozart’s. Nebst Angabe der verloren gegangenen, angefangenen, übertragenen, zweifelhaften und unterschobenen Kompositionen desselben« beim Verlag Breitkopf & Härtel herausgegeben. Der neue Katalog ist online abrufbar. Die Neuausgabe umfasst unter anderem Neueinträge zu mehr als 90 Werken im Hauptteil ab KV 627, hauptsächlich Fragmente und verschollene Kompositionen Mozarts, die in den bisherigen Ausgaben fehlten oder nur beiläufig erwähnt wurden.

Die Neuauflage des Köchel-Verzeichnisses wurde vom Verlag Breitkopf & Härtel und der Internationalen Stiftung Mozarteum erstmals in Mozarts Heimatstadt Salzburg präsentiert. Auf fast 1.400 Seiten wird Mozarts musikalisches Schaffen nach dem aktuellen Stand der Forschung beschrieben. Insbesondere wurden die Ergebnisse der wissenschaftlichen Gesamtausgabe (Neue Mozart-Ausgabe, herausgegeben von der Internationalen Stiftung Mozarteum, erschienen 2007 im Bärenreiter-Verlag Kassel) integriert. Darüber hinaus wurden die Korrespondenz der Familie Mozart, die in verschiedenen Publikationen gesammelten historischen Dokumente zu Mozarts Leben und Werk sowie fast 1.800 wissenschaftliche Veröffentlichungen ausgewertet. Alle Daten wurden in den letzten Jahren systematisch überprüft und ergänzt. Das Buch erscheint erstmals unter dem Titel Köchel-Verzeichnis, der längst zu einem umgangssprachlichen Begriff geworden ist. Laut einer Ankündigung während der Präsentationszeremonie wird dies wahrscheinlich die letzte gedruckte Ausgabe des Köchel-Verzeichnisses sein.

Die neue Ausgabe enthält neu entdeckte Mozart-Stücke, die zum Teil schon in früheren Ausgaben des Köchel-Verzeichnisses Platzhalter hatten, wie das Lied „Per la ricuperata salute di Ofelia“ KV 477a, die Arie „Die neugeborne Ros entzückt“ KV 365a und das Klavierstück KV 626b/16 (jetzt K. Anh. A 66), das 2021 als „94 Sekunden neuer Mozart“ vorgestellt wurde. Seit 2006, dem 250. Geburtstag Mozarts, wurden mehrere Klavierstücke des jungen Komponisten erstmals gefunden oder als seine Werke identifiziert, darunter Mozarts erster Konzertsatz, der im so genannten „Nannerl-Notenbuch“, dem Klavierbuch seiner Schwester Maria Anna, ohne Autorennamen steht und nun als KV 636 geführt wird.

Darüber hinaus konnte ein „Serenate ex C“ aus der Musikbibliothek der Leipziger Städtischen Bibliotheken als jugendliches Werk Mozarts nachgewiesen werden. Das bisher unbeachtete Werk, das nun die Nummer KV 648 erhalten hat, besteht aus sieben Miniatursätzen für Streichtrio, die zusammen etwa 12 Minuten dauern. Die einzige erhaltene Quelle schreibt die Komposition „Wo[l]fgang Mozart“ zu. Dies deutet auf ein Jugendwerk hin, denn Mozart fügte seinem Vornamen seit seiner ersten Italienreise 1769 regelmäßig „Amadeo“ und ab 1777 „Amadé“ hinzu. Auch der kompositorische Stil deutet auf die 1760er Jahre hin. Für Ulrich Leisinger, den Wissenschaftlichen Leiter der Internationalen Stiftung Mozarteum und Redakteur der Neuausgabe des Köchel-Verzeichnisses, ist das Trio ein bedeutender Mosaikstein: „Der junge Mozart ist uns bislang hauptsächlich als Komponist von Klaviermusik, von Arien und von Sinfonien bekannt. Aus einer Aufstellung von Leopold Mozart wissen wir aber von vielen weiteren kammermusikalischen Kompositionen aus der Jugendzeit, die leider allesamt verloren gegangen sind. Es sieht so aus, als ob sich in Leipzig durch eine Verkettung günstiger Umstände ein vollständiges Streichtrio erhalten hat. Da die Vorlage dazu offenbar von Mozarts Schwester stammt, ist es reizvoll, sich vorzustellen, dass sie das Werk als Erinnerung an ihren Bruder aufbewahrt hat. Vielleicht hatte er das Trio eigens für sie zu einem Namenstag komponiert.“

Das neue Köchel-Verzeichnis ist die moderne Fortsetzung des von Köchel initiierten Zugangs zu Mozarts Kompositionen: die Einträge wurden weiter systematisiert, es wird klar zwischen verschiedenen Fassungen eines Werks unterschieden, Annahmen über die Datierung und Echtheitsfragen werden begründet, Erstausgaben in Partitur und Stimmen werden konsequent nachgewiesen, weitere wichtige Ausgaben werden benannt, erstmals werden auch die Textquellen konsequent berücksichtigt, auf Wertungen wird verzichtet und die Anhänge wurden völlig neu konzipiert. Die 1.392 Seiten umfassende Neuausgabe bietet darüber hinaus in neu strukturierten Anhängen einen Überblick über Mozarts Bearbeitungen anderer Werke, Kadenzen zu eigenen und fremden Werken sowie Studien, Unterrichtsmaterial und alle sonstigen musikalischen Aufzeichnungen. Sie gibt Aufschluss über Fehlzuschreibungen, ist durch eine thematische Übersicht, zahlreiche Indizen und eine umfangreiche Bibliografie erschlossen.

Die Nummerierung wurde vereinfacht, so dass nun alle authentischen Werke des Hauptteils unter der Nummer stehen, unter der sie dort erstmals verzeichnet waren. Für die meisten für die musikalische Praxis relevanten Kompositionen sind dies die Nummern aus der ersten Auflage von 1862, für die mehr als 100 Mozart’schen Fragmente die der dritten Auflage von 1937. Die verwirrenden Mehrfachnummerierungen wurden rückgängig gemacht. Die Neuausgabe enthält zudem 95 Einträge für Kompositionen, die in keiner der bisherigen Ausgaben mit einer eigenen Nummer im Hauptteil standen. Da die Zeitfolge als Ordnungsprinzip aufgegeben wurde, können diese neuen Nummern einfach beginnend mit KV 627 angehängt werden. Die Entstehungszeit kann nun (zusätzlich zu den Einzeleinträgen) in einer chronologischen Übersicht angegeben werden. Eine thematische Übersicht nach Werkgruppen, eine Konkordanz und eine chronologische Übersicht erleichtern den Zugang. Das Köchel-Verzeichnis bietet nun wieder einen detaillierten Überblick über Mozarts Schaffen. Die gänzlich neu gestalteten Anhänge sind seit der 6. Auflage von 1964 systematisch angelegt. Nicht jede Notenzeile, die Mozart mit eigener Hand geschrieben hat, ist sein eigenes musikalisches Werk: Mozart hat Stücke anderer Komponisten arrangiert, beispielsweise Sonatensätze von Johann Christian Bach und anderen als Klavierkonzerte bearbeitet oder Oratorien von Händel für Aufführungen eingerichtet. Diese Bearbeitungen befanden sich bisher im Hauptteil und sind nun zu den Abschriften fremder Werke in Anhang A gestellt worden. Dieser Anhang besteht nun aus 63 Einträgen, wobei ein Eintrag auch mehr als ein Einzelwerk umfassen kann.

Alle Kadenzen für eine Arie oder ein Konzert sind übersichtlich in einem neu geschaffenen Anhang, Anhang G, vereinigt. Dieser hat 46 Anhang-A-Nummern, aber es gibt tatsächlich 156 Einzeleinträge, wenn nicht nur alle Kadenzen zu einem einzigen Konzert, sondern auch die verschiedenen Fassungen einer Kadenz einzeln gezählt werden. Der neue Anhang H fasst Studien, Unterrichtsmaterial und sonstige musikalische Aufzeichnungen zusammen. Diese waren bislang nur unsystematisch und bruchstückhaft erfasst und über verschiedene Stellen des Werkverzeichnisses verstreut. Hierzu gehören viele kontrapunktische Studien, aber auch Themenaufzeichnungen oder Incipits, die Mozart aus unterschiedlichen Gründen notiert hat. Insgesamt gibt es 306 Einzeleinträge, darunter allein 81 Kanons und 29 Fugen zu Studienzwecken. Zum ersten Mal hat jede musikalischen Aufzeichnung Mozarts, egal wie umfangreich, eine eigene Nummer, auf die verwiesen werden kann.

Daniel Floyd, 20. Oktober 2024

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