Buchkritik: „Die Frau ohne Schatten“, Thomas Betzwieser / Laurenz Lütteken

Noch vor wenigen Jahren galt Die Frau ohne Schatten als relativ sperriges Werk, ja: wer einen älteren Opernführer aufschlägt und das Werk nicht kennt, könnte den Eindruck gewinnen, dass Die Frau ohne Schatten, bei aller kompositorischen Güte, denn doch nicht die Inspiriertheit einer Elektra, eines Rosenkavalier oder einer Ariadne besäße. Seit einiger Zeit aber haben nicht wenige Aufführungen an größten Häusern bewiesen, dass Strauss’ und Hofmannsthals größtdimensionertes Werk nicht nur alles andere als symbolistisch-verschwommen ist, sondern auch ein Publikumsliebling zu sein vermag. Man „kennt“ eben die Oper – aber was heißt hier schon „kennen“?

Im Licht der jüngeren Erfolgsgeschichte des Opus magnum ist es vermutlich kein Zufall, dass in kürzeren Abständen wichtige Grundlagenwerke zur Entstehung (Olaf Enderleins monumentale Abhandlung von 2017 ist ein Markstein der Forschungsgeschichte) und zum Gehalt des „Frosch“, wie das Werk im Jargon der Opern-Aficionados heißt, vorgelegt wurden. Schon seit Jahren kündigt der Verlag Königshausen & Neumann eine Untersuchung von Christian Schaper an (Gefühlswegweiser und Komponiermaschine. Studien zu Skizzen und musikalischer Faktur von Richard Strauss’ „Die Frau ohne Schatten“); bevor sie auf den Markt kommt, kann man einen Vorschein dessen, was einen dort erwartet, in einem Sammelband lesen, der die Beiträge einer Tagung dokumentiert, die zum 100. Geburtstag der Oper, also ein Jahrhundert nach dem Uraufführungsjahr 1919, in Frankfurt veranstaltet wurde. Das Ergebnis ist, alles in allem, selbst für den beeindruckend, der mit den jüngeren Forschungen mehr oder weniger vertraut ist, bringen die 16 Texte doch einen hervorragenden Querschnitt durch die aktuelle Strauss-Hofmanntshal-Forschung zwischen zwei Buchdeckel. Es ginge, schreibt Laurenz Lütteken, um den interdisziplinären Zugang zu einem Werk, das nicht allein in der Musik-, Literatur-, Opern- und Theater-, auch in der Sozialgeschichte seinen Platz hat. „Rethinking“ nennt’s der Zürcher Professor. Man könnte auch von einer Adorno-Kritik ausgehen, die die Meinung des Musikphilosophen, bei aller gelegentlichen vorsichtigen Annäherung an dessen negative Ästhetik, zu widerlegen vermag, demgemäß die Partitur „nicht klingt“, oder anders: sie sei „neu an keiner Stelle und arm durchwegs“. Wie sich doch ein Musikkritiker irren kann… denn die Beiträger nehmen es mit der Neuheit des Werks und seiner besonderen Machart so genau, dass das eigentümlich Klingende dieses Ausnahmewerks sehr genau dechiffriert wird.

Nicht erst seit 2019 dürfte bekannt sein, dass das, was in der Frau ohne Schatten als symbolistisches Märchen daherkommt, nur vor dem Hintergrund eines zeitgenössischen Ehe- und Sexualdiskurses entstehen konnte, in dem sich Freuds und Hofmannsthals, aber auch Strauss’ Motive bündig vereinigten. Wer sie heute liest und hört, steht ohne diesen background vor Interpretationsschwierigkeiten – auch wenn er, worauf Ulrike Kienzle hinweist, den historischen Hintergrund des Abschlachtens im 1. Weltkrieg als Folie zur Kenntnis nimmt. Die Deutung könnte sogar noch über die Zeitbedingtheit hinausgehen: Der Schatten ist, so Kienzle, nicht nur ein Symbol für die weibliche Fruchtbarkeit, sondern „ein Sinnbild für das Gesetz von Ursache und Wirkung, mit anderen Worten: ein Symbol für das Bewusstsein der persönlichen Verantwortung. Keinen Schatten werfen heißt: Keine Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun.“ Lütteken weist denn auch auf Strauss’ Wort vom „unmittelbaren Zusammenhang mit dem Leben“ hin, in das die Oper hineinwirken solle; in diesem Zusammenhang gerät die Frage, was denn „romantisch“ an der Frau ohne Schatten sei, in den Fokus einer skeptischen Betrachtung, die Strauss nicht als reflexionslos vorwärts komponierenden „Vollblutmusiker“, sondern als einen Mann charakterisiert, der das „unrettbare Ich“ (Ernst Mach) bemerkte und noch einmal, in Hofmannsthals vielzitiertem „Triumph des Allomatischen“ (= der Verwandlung an und in dem/der Anderen), den Menschen in Form des Menschengeschlechts an den apotheotischen Schluss einer Oper setzte. In diesem Zusammenhang berührt es merkwürdig, dass, so Lütteken, selbst im scheinbar heiteren Till Eulenspiegel Tristan-Anspielungen verborgen sind. Man sieht: Musik ist eben, gerade bei Strauss, im Zeitalter der nachwirkung Nietzsches, immer noch ein bisschen mehr als Musik. Im Zeichen der Verhüllung (das Thema wird von Martin Schneider aufgenommen) enthüllt sich sozusagen ein Geheimnis, das nicht enträtselt werden soll, obwohl das, was dahintersteht, sehr konkret ist. Dagegen wirkt Albert Giers souveräne Analyse der Handlung als Märchen-Stoff geradezu harmlos, auch wenn die Kombination ungewöhnlich vieler literarischer Quellen – von 1001 Nacht, persischen Erzählungen, Adalbert-Stifter-Texten, Faust II, Gozzis La Donna serpente (der Vorlage für Wagners Die Feen) etc. pp. – das Aufschürfen einschlägiger Märchen-Motive nicht überflüssig, sondern reizvoll macht. Wo das Volksmärchen zum Welttheater wurde, wurde die Oper zur Märchenerzählung; Ulrike Stamm und Bernd Zegowitz widmen sich en detail dem Hofmannsthalschen, mit reichlichen Orientalismen versehenen Prosatext, stellen auch die Abwesenheit einer Szene innerhalb des Librettos fest (der Kaiser betritt die Höhle mit den ungeborenen Kindern). Verhüllung,

Sehen ohne gesehen zu werden, das Verhältnis von Unsichtbarkeit und Herrschaft, die Kaiserin, durch die das Licht durchscheint: im „diaphanen“ Theater wird das „Erwachen des generativen Gewissens“ (so Christian von Ehrenfels in seiner 1907 publizierten Sexualethik) reizvoll verrätselt. Es bedarf einer historischen Archäologie, um die zeitgenössischen Spuren im Werk zu entdecken: die allzu schlanke, sich permanent zu flüchten scheinende Kaiserin Elisabeth steht durchaus im Hintergrund der Figurenzeichnung der Kaiserin, so Juliane Vogel, die in ihrem spannenden Beitrag Eine verminderte Neigung zur Kindererzeugung den Bezug zu Freuds biopolitischen Thesen begründet herstellt. In diesem Licht kann auch Baraks „Schuld“ diskutiert werden: er ist, so Vogel, ebenso ein „erlösungsbedürftiger Patient“ wie die Färberin. Es sind Schlüsse wie diese, die die Lektüre des Bandes für jenen Leser zu einem intellektuellen Vergnügen machen, der vor und nach dem Besuch der Oper Genaueres wissen will – auch Genaueres über die „Fälle“, die, wie die Märchen aus aller Welt, zu den Quellen des Textbuchs gehören.

Neben den inhaltlichen Komplexen der Oper werden, auf verschiedenen literarischen und musikalischen Ebenen, immer wieder die Arbeitsweisen und Techniken der beiden Opernschöpfer erläutert, sei es, dass Katharina Hottmann die Figur der Färberin interpretiert, sei es, dass Olaf Enderlein die im Zusammenhang mit Strauss’ sonstiger Arbeitsweise ungewöhnliche Entstehung des bewegenden Gesangs der Wächter aus den Skizzen erklärt, sei es, dass Christian Schaper in seinem wichtigen Aufsatz die Deutung der sog. Leitmotive in Bezug zur Entstehung und den Teillieferungen des Textbuchs diskutiert. Interessant ist schon die Tatsache, dass das initiale Keikobad-Motiv nicht am Anfang der Kompositionsarbeit stand. Bei Strauss verschwisterten sich Pragmatismus, ein „Komponieren auf Vorrat“, ein „Komponieren auf Sicht“ und höchste thematische Verabeitungs- und Instrumentierungskunst, was damalige (siehe Adorno und Paul Bekker) und gegenwärtige Kritik nicht ausschloss und -schließt. Für Uwe Schweikert, der die einzelnen Stimmen der Oper in Bezug auf ihren dramatisch-dramaturgischen Einsatz untersucht, ist die „fade“ diatonische Musik des Erwachens des Kaisers „missraten“. „Wenn das Herz aus Kristall“: Es soll Menschen geben, die diese Stelle schön finden – und Schönheit liegt bekanntlich immer im Ohr des Hörers… Anders steht es mit dem „rauschenden“ Finale, an dem Strauss, wie er bekannte, lange zu beißen hatte, doch auch hier vermag die Szene das zu legitimieren, was wie eine pure bombastische Affirmation eines überlebten generativen Denkmusters klingt.

Stichwort Szene: Während Evan Baker mit einer genauen Einsicht in die dekorative Entstehungsgeschichte der Wiener Uraufführung wie der spektakulärerweise dicht darauffolgenden Inszenierungen in Dresden und Berlin ein paar Fotos der Berliner Aufführung erstpubliziert und einen umfangreichen Zeitungsbericht als wichtigen Quellenfund beisteuert, gerät Alfred Roller, auch bei Christiane Mühlegger-Henhappel, der Herausgeberin des Briefwechsels von Strauss, Hofmannsthal und Roller, als mitschöpfender Dritter in den Blick – denn der Komponist und Librettist standen bei der Produktion in intensivem Austausch, der sich auf die Werkgestalt auswirkte, ohne dass Roller indes die technischen Probleme eines Zauberstücks zu lösen vermochte. Jürgen Schläder schließt an Bakers gute positivistische Forschungen an, um am Schluss einige jüngere Bühnendeutungen zu charakterisieren: mit Krzystof Warlikowskis Münchner Neuinszenierung von 2013 als Endpunkt, in dem sich Filmzitate (Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad) mit dem „Gedankenraum“ einer leeren Bühne kreuzen. Zuletzt ist Adrian Kelchs Analyse der Symphonischen Fantasie aus ‚Die Frau ohne Schatten‘ aufschlussreich – denn Strauss  stellte nach dem 2. Weltkrieg eine zunächst ausdrücklich als „Mährchen“ (!) titulierte „Fantasie“ zusammen, die zunächst und wieder auf Goethe Bezug nehmen sollte, um das Färberpaar, nicht das „Hohe Paar“ von Kaiser und Kaiserin, in den Mittelpunkt des Konzertstücks  zu stellen, das noch zuletzt als „Ehedrama für Orchester“ (so Stephan Kohler) auf die autobiographischen Aspekte der Oper verwies. Konsequenterweise folgt schließlich ein Essay von Ulrich Konrad, in dem die dialektische Nähe und Ferne der beiden aufeinander folgenden Opern Die Frau ohne Schatten und Intermezzo betont wird: als habe sich der Komponist nach dem Riesenwerk und der jahrelangen komplexen Entstehung des von den beiden Schöpfern als „letzte romantische Oper“ titulierten Frosch bei der selbstgedichteten, auch von Arnold Schönberg hochgeschätzten musikalischen Komödie von den inneren und äußeren Strapazen des gemeinsamen Hauptwerks erholen müssen.

Nebenbei: die Anordnung der 16 Beiträge gehorcht einer zwingenden Logik, die dem Werk nur angemessen ist. Hier wurden Tiefenschichten des Gehalts und der textlichen wie musikalischen Komposition erschlossen, die es verständlich machen, wieso das einst als „schwerer Brocken“ und minder inspiriertes Werk, bei aller möglichen Kritik, zu den ganz großen Werken des Produktionsteams und der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts gehört. Wie Christian Schaper am Ende seines Aufsatzes so schön schreibt: „Und doch wird man über eine kompositorische Intelligenz, die leitmotivische Prozesse von höchster Artifizialität zu Plots von geradezu symphonischer Konsequenz zu organisieren versteht, nur staunen können.“
Frank Piontek, 22. Oktober 2024


Die Frau ohne Schatten. Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss’ „Schmerzenskind“
Hrg. von Thomas Betzwieser und Laurenz Lütteken

373 Seiten, 22 Tafeln, viele Notenbeispiele.
Verlag Peter Lang, 2023. 69,95 Euro.