„Richard Wagner: Bonvivant, Gourmet, Pumpgenie und Trinker“ – so lautet der Untertitel des Sammelbandes, den Dieter David Scholz mit leichter Hand in Form einer höheren Buchbindersynthese zusammengefügt hat. Nicht weniger als fünf Beiträge, die vermutlich auf DDSs Vorträgen basieren – also nicht weniger als ca. 80 von 210 Textseiten – verbinden sich mit dem im Untertitel genannten Themenkreis eher am Rand: Wagners Beziehung zu Liszt, das Haus Wahnfried, Richard Wagners zweite Ehe (oder „Richards und Cosimas Ehe“, wie Dieter schreiben würde), der „Charakter eines Lebenskünstlers“ und ein Text über die Krankheiten Richard Wagners haben nichts bis wenig mit Wagners Genießer-Existenz zu tun – oder doch nur insoweit, als in Wahnfried die Köchinnen feine Sachen auftischten und Wagner unter Krankheiten litt, die vielleicht auch von der einseitigen Einnahme bestimmter Speisen und Getränke verursacht oder vertieft wurden.
Für den Wagner-Gegner, vielleicht auch -Freund, der sich für den „Parasiten“, „Lump“, „Trinker“, „Schmarotzer“ und „Verschwender“ interessiert, tut der Band beste Dienste. Dass jedoch dem Leser nicht allein zwischen den Beiträgen zu Wagners Stoff-Fetischismus, Champagnerleidenschaft, Wanderlust und Geldliebe, sondern auch innerhalb der mit breitesten, gelegentlich mehrere Druckseiten einnehmenden Zitaten, also umfangreichen Fremdtextblöcken versehenen Aufsätze Wiederholungen begegnen, mag dem pädagogischen Prinzip geschuldet sein. Wer Wagner noch nicht kennt, könnte bei oberflächlicherer Lektüre meinen, dass der „Parasit“ (das Schmähwort taucht mehrmals auf) nur genommen, kaum gegeben hätte. Es muss auffallen, dass Wagner selbst das Wort nur ein einziges Mal in seinen Schriften verwendet hat: in Zusammenhang mit den Juden. „In der Natur“, so schrieb er an Ludwig II., „ist es so beschaffen, dass überall wo es etwas zu schmarotzen gibt, der Parasit sich einstellt: ein sterbender Leib wird sofort von den Würmern gefunden, die ihn vollends zersetzen und sich assimilieren. Nichts anderes bedeutet im heutigen europäischen Kulturleben das Aufkommen der Juden.“ Dass Wagner permanent projiziert hätte, wenn er Menschen zu verachten vorgab, ist eine diesbezügliche These, die bedenkenswert wäre, wenn sie völlig stimmte (Brahms und Offenbach hat Wagner eher aufrichtig verachtet als insgeheim „geliebt“); DDS liebt es, gelegentlich lockere, dezent küchenpsychologische Floskeln in den Text zu streuen, der schon aufgrund seiner vielen Wiederholungen und oft willkürlich anmutenden Verknüpfungen eine gründlichere Schluss-Redaktion verdient hätte.
Apropos Küche: Im Literaturverzeichnis fehlt, es muss gleichfalls auffallen, das einschlägige Werk zu Wagners Küche. „Zu Gast bei Wagner. Kunst, Kultur und Kulinarisches in der Villa Wahnfried“, geschrieben von Tilman Spengler, 2002 herausgegeben mit einem Vorwort von dessen Ehefrau, der Wagner-Urenkelein Daphne Wagner, enthält sogar 33 Rezepte. Es sollte in keiner Bibliographie zum Thema „Richard Wagner als Gourmet“ fehlen. Ebenso fehlt ein Kapitel über den Hundefreund Wagner (vergl. Franziska Polanskis Hauptwerk zum für Wagner hochwichtigen kynologischen Thema: „Richard Wagners Hunde“). Dass Wagner auch in Franken ein begeisterter Wanderer war, erhellt aus Eva Kröners „Wandern mit Wagner“, das Richard Wagners Spuren durch Franken“ seit 2019 genau nachzeichnet; der Titel müsste unbedingt aufscheinen, um das Bild des Lebens-Genießers bibliographisch abzurunden. Dafür zitiert DDS oft aus der Sekundärliteratur, wo Quellenhinweise leicht möglich und nützlich gewesen wären, woran man sieht, dass DDS sein Buch nicht für detailpusselige Wissenschaftler, sondern für interessierte Laien zusammengestellt hat. Einige Fehler wären vermeidbar gewesen, wenn DDS noch einmal genau nachgeschaut hätte: den Satz „Er ist göttlich, göttlich“ hat Ludwig II. an Cosima Wagner, nicht Cosima Wagner an Ludwig II. geschrieben. Ein „gewisser Herr Zumpe“ ist der bekannte Herman Zumpe, der zur Bayreuther „Nibelungenkanzlei“ gehörte und später Karriere am Salzburger Theater machte; die Carrie-Pringle-Geschichte, derzufolge sie an Wagners letztem Herzinfarkt schuld war, wurde 2004 im Programmbuch der Bayreuther Festspiele entmythisiert, und mit dem „Dr. Brée“, der am 10. August in Cosima Wagners Tagebuch genannt wird, ist nicht Nietzsches Freund Paul Rée, sondern Moritz Brée gemeint, dem Wagner am selben Tag ein Albumblatt gewidmet hat. Der Fund wurde bereits 2017 publiziert; zum Anachronismus passt die mehrmalige Behauptung, dass man heute noch Dies und Jenes über Wagner meinen würde, was indes längst von kritischen Wissenschaftlern beiseite gelegt worden ist. Die Sekundärliteratur zumal zum unabschliessbaren Thema „Wagner und die Juden“ ist inzwischen sehr umfangreich – und sehr unterschiedlich in ihren Ausrichtungen. An diesen Stellen merkt man, dass es sinnvoll gewesen wäre, die Abfassungszeit der jeweiligen Texte, die durchaus Interessantes bergen, nachzuweisen. Wenn eine Kaufkraft- und Umrechungstabelle nach einer Sekundärliteratur von 2006 zitiert wird, haben wir es mit einem bereits historisch gewordenen Werk zu tun, dessen Thesen zu großen Teilen bereits von der Forschung abgearbeitet worden sind. Geht es um Richard und Cosima Wagners Ehe und die Einschätzung der Persönlichkeit Cosima Wagners sowie die Beziehung der Beiden, empfehle ich die kardinale Cosima-Wagner-Biographie Sabine Zurmühls, die in bis dato differenziertester Weise über den Charakter und das So-Sein Cosima Wagners Auskunft gibt (der Titel fehlt merkwürdigerweise im Literaturverzeichnis). Ob die Ehe der Zwei „kein Glück“ war, ist denn doch eine steile These. Geht es um Minna Wagner, hat man inzwischen mit Eva Riegers und Sibylle Zehles umfangreichen wie genauen Biographien genügend Material in der Hand, um DDSs Rede von der künstlerisch unwissenden Hausfrau, die Minna Wagner angeblich war, zurückzuweisen. Es scheint nicht leicht, Legenden zu entkommen.
Natürlich ist es gut, wenn sich ein Autor gegen eben diese Legenden wendet, aber der kundige Leser hat denn doch das Gefühl, dass der Autor mit seinen Invektiven gegen ältere Auffassungen ein wenig zu spät kommt. Im Übrigen macht er selbst nicht klar, dass die Inspirationslegende der Schaffung des „Rheingold“-Vorspiels in La Spezia eine Fiktion war (darauf hat nicht allein Scholzens Lehrer Peter Wapnewski in seinem Buch „Der traurige Gott“ hingewiesen), so wie er, ohne Einordnungen, oft nur Zitat hinter Zitat stellt, ohne sie selbst einzuordnen. Am Ende aber – das letzte Wort ist ja manchmal das schlagendste – lesen wir vom „Luderpack“ (allerletzter Satz: „Das sagte ausgerechnet Richard Wagner“), so wie Wagner beim Autor unterm Strich eher als „Parasit“ denn als schöpferische Persönlichkeit auftritt. Dass er nicht allein dem bayerischen König seine wertvollen Original-Partituren, sondern der Menschheit bis heute und fortwirkend unschätzbare Werte schenkte, könnte über der Lektüre fast vergessen werden. Sollte das „Luderpack“ DDSs letztes Wort zu seinem Fall Wagner sein? In diesem Fall rangierte er in der Abteilung der Wagnerverächter, die, wie Gottfried Wagner, in Richard Wagner vor allem einen „Angeber“ sehen. Ein Angeber aber ist laut Definition eine Person, die ihre eigenen Leistungen freiwillig und unaufgefordert in den Vordergrund stellt. Stimmt – nur dass Wagners Leistungen eben so überdimensional waren, dass man hier schlecht von bloßem „Angeben“ reden kann. Im Übrigen gehört es zu den ex negativo dazugehörenden Legenden, dass Wagner Liszts Werken, abseits von gelegentlichen Motivübernahmen, Elementares verdankte. Auch Meyerbeer hat in Wagner, allen (zitierten) Behauptungen zum Trotz, keine musikalischen Spuren hinterlassen. Darauf hat sogar Sieghart Döhring, der größte lebende Kenner Meyerbeers und dezidierter Wagner-Meyerbeer-Forscher, hingewiesen.
Gewiss: Wagner war ein pausenloser Propagandist seiner selbst, ein ewiger Selbst- und Welterklärer, eine Nervensäge und ein zweifelhafter Charakter: bisweilen charmant (was DDS nicht leugnet), bisweilen totalitär. In einem Einzelkapitel bringt Scholz viele ausführlich zitierte Meinungen aus der Literatur auf die Druckseiten. Wagner war dies alles, aber als „creator“ doch noch wesentlich mehr als ein zu beurteilender Charakter. Bei Dieter David Scholz hat der aufmerksame Leser, der Sinn für Zwischentöne hat, dass die Hassliebe, die er gegenüber dem Parasiten, Schnorrer und Angeber Wagner zu pflegen scheint, nicht immer etwas mit Wagner selbst zu tun hat. Wie von Scholz gesagt: Man hasst nur das, was man eigentlich liebt.
Ein wichtiges Zitat kommt in Scholzens Buch merkwürdigerweise nicht vor. Dabei passt es glänzend in den Zusammenhang, weil es wie kaum ein zweites auf die auszuhaltenden Widersprüche von Gourmetwesen, „schlechtem“ Charakter, „Verschwendungssucht“ und bleibendem Verdienst verweist. Es findet sich fast am Ende von Deems Taylors Essay „Das Monster“, der von Wieland Wagner in einem Bayreuther Programmheft veröffentlicht wurde. Nachdem Taylors alle Vergehen und Charakterschwächen, die nur irgend über Wagner zu sagen sind, ehrlich aufgelistet hat, kommt er zu folgendem Schluss:
„Die Frauen, deren Herzen er gebrochen hat, sind seit langem tot, und der Mann, der niemand lieben konnte außer sich selbst, hat ihnen meiner Meinung nach in ‚Tristan und Isolde‘ ein unsterbliches Denkmal gesetzt. Wenn man an den Reichtum denkt, mit dem, für eine Zeit zum mindesten, das Schicksal Napoleon bedacht hat, den Mann, der Frankreich zugrunde richtete und Europa plünderte, so wird man vielleicht zugeben, dass ‚Der Ring des Nibelungen‘ mit ein paar Tausend Dollar Schulden nicht zu teuer bezahlt war.“
Ita est.
Frank Piontek, 6. November 2024
„Gott, wenn ich nur recht viel Champagner habe“
Richard Wagner: Bonvivant, Gourmet, Pumpgenie und Trinker
Dieter David Scholz
237 Seiten. Verlag Königshausen & Neumann, 2024