Nennt man einem Mozart-Freund, der sich ein wenig in der Forschung und neueren Literatur auskennt, den Namen „Ulrich Konrad“, wird er sogleich reagiere. Konrad edierte innerhalb der Neuen Mozart-Ausgabe die Skizzen, Entwürfe und Fragmente, legte auch maßgebliche Arbeiten zu Mozarts Schaffensweise vor. Wer eher Wagner schätzt, kennt vielleicht die von ihm herausgegebenen Faksimile-Drucke von Tristan und Parsifal, weiß vielleicht auch, dass er seit Jahren federführend ist beim Projekt der historisch-kritischen Herausgabe sämtlicher Schriften Richard Wagners. Besonders lesefreudige Opernfreunde mögen seine Dissertation kennen, die er Otto Nicolai gewidmet hat.
Nun kam, gleichsam als Summe und Querschnitt eines Musikforscherlebens, eine dickleibige Auswahlsammlung seiner Schriften heraus, die zwischen 1997 und 2015 das Licht der Welt erblickten. Warum nicht auch jüngere Texte ihren Weg in den Sammelband fanden, ist ein wenig unerfindlich, auch wenn die Konzentration auf nicht weniger als 900 Druckseiten (einschließlich einer 210 Nummern enthaltenden Bibliographie, die nicht einmal alle publizierten Texte Ulrich Konrads erfasst) eine nachvollziehbare äußere Grenze markiert. Von „Reduktion“ kann jedoch keine Rede sein.

Der Würzburger Ordinarius für Musikgeschichte hat sich, was der Band mit seinen 39 Aufsätzen schlagend klar macht, in den letzten Jahrzehnten in einem denkbar breiten Feld getummelt: von der Wiener Klassik bis zur Gegenwart, von der frühen Neuzeit zu jüngeren Vertonungen der neutestamentlichen Apokalypse. Für den Opernfreund sind natürlich vor allem jene Texte interessant, die sich um die geliebte Gattung drehen, wobei eines ausnahmslos und immer und seit je gleich ist: die ungeheure Skrupelhaftigkeit, mit der der Interpret an Töne, Texte und Tendenzen herangeht. Bevor Konrad eine These formuliert, hat er sie zweimal abgeklopft; bevor er ein Phänomen beschreibt, hat er es genau genug beschrieben, um auch im Leser das Gefühl zu provozieren, dass er es sozusagen bewältigt hat – und selbst dort bleiben dem Deuter immer noch Zweifel genug, ob er das (Kunst-)Werk wirklich angemessen gewürdigt hat. So bewegen wir uns mit Ulrich Konrad zwar nicht durch das Mozart-Land, dem in anderen Bänden Reverenz erwiesen wurde (hier hat sich Konrad in sechs Fällen dem Opernkomponisten gewidmet), sondern beginnen die Reise mit Franz Lachner. Zwar enthält der Band auch einen Beitrag zu Otto Nicolai, doch findet sich hier kaum eine Erwähnung des Opernschöpfers. Franz Lachner gerät also mit seiner Bühnenmusik zum König Oedipus des Sophokles in den Blick: uraufgeführt im Jahre 1852 an der Isar, handelt es sich, stellt Konrad fest, um ein opernhaftes Werk, das innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums seine historische Stunde hatte. Abgesehen davon, dass Konrad stets, im gebotenen Platzrahmen, die Struktur der Werke konzis beschreibt, hat er ein Faible für scheinbar Abseitiges, fast Vergessenes, musikgeschichtlich doch immer Bemerkenswertes – doch bedarf es des Interpreten, um eben diese Relevanz erst einmal sichtbar zu machen. Max Bruchs Loreley, von dem immerhin eine Gesamtaufnahme existiert, gehört ja nicht zu jenen Werken, die einem Opernfreund unmittelbar einfallen, wenn er auf deutschsprachige Opern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesprochen wird. Bruchs Lied von der Glocke gibt Konrad in diesem Sinne die Möglichkeit zu einer grundsätzlichen Anmerkung, die alle Analysen und Werke betrifft: es wäre zu klären, „was die Auseinandersetzung mit bestimmten Werken im Einzelfall heute noch lohnt. Diese Klärung jedoch führt nicht der Historiker herbei, sondern sie geschieht in der ästhetischen Gegenwart der Musik“. Es stimmt, aber wo der Historiker sich um die Anlage und den Hintergrund der Musik bemüht, vermag er, jenseits des Universitätsstudiums, zumindest den intellektuellen Sinn für die seltene, aber auch scheinbar bekannte Musik zu öffnen.
So reflektiert er Hans Pfitzners wohl auch persönlich bedingte Zuneigung zu Bruchs Loreley-Oper, um den eher diffusen Romantik-Begriff ins Spiel zu bringen und dem Werk zwischen einem „vertrauten musikalischen Gestenrepertoire“ und einem „mitreißenden theatralischen Moment“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er bietet eine monographisch-dichte Einführung in Darius Milhauds afrikanophiles Weltschöpfungs-Ballett La création du monde, entdeckt in Strauss` Feuersnot wesentlich mehr als eine opernkabarettistische Abrechnung des Komponisten mit seiner Heimatstadt, nämlich das zeitgenössische Konzept der „homo natura“ und ein eminent modernes Bühnenstück, widmete sich auch der Elektra, um ihren kompositorisch-dramaturgischen Rang vor dem Hintergrund zeitgenössischer Hysterie-Diskurse und Tonalitätsentwicklungen zu untersuchen. Er mahnt, soweit es das erste Drittel des 20. Jahrhunderts betrifft, immer wieder die interdisziplinäre Tätigkeit der Literatur-, Theater- und Musikwissenschaftler an – aber gilt diese Forderung nicht für ausnahmslos alle Beschäftigung mit den Bühnenwerken zwischen dem 16. Jahrhundert und der Moderne? Weil eine „Barockoper“ ebenso wenig per se verständlich ist wie ein Renaissance-Intermedium?
Konrad selbst trägt keine diesbezüglichen Scheuklappen, wenn es darum geht, eine Oper in ihren Kontext zu rücken. Anders als beispielsweise Udo Bermbach, der in einem denkwürdigen Beitrag zu einem Strauss-Sammelband die steile These aufstellte, dass ausnahmslos alle Opern des Meisters nach der Elektra musikalisch und inhaltlich reaktionär seinen, plädiert Konrad mit Gründen für Richard Strauss: Folge man den Kritikern, hätte Strauss, „pointiert formuliert, nach der Elektra konsequenterweise den Wozzeck schreiben müssen. Mit einer derartigen Vorstellung ist indes nichts gewonnen.“ Denn Strauss strebte – man muss das so dezidiert formulieren wie Konrad – bei jedem neuen Werk nach einem unverwechselbaren und charakteristischen Ton. Apropos Wozzeck und Strauss: In einem besonders luziden Aufsatz geht es um Zitate (auch um ein Strauss-Zitat bei Berg, nämlich aus dem Rosenkavalier: das Motiv des Ochs-Walzers) im Wozzeck, auch um besonders diffizile Zitate im Intermezzo (und einem im Sinne Goethes bedeutenden Goethe-Lied); der Nachweis, dass das Herbeizitieren eines Themas aus Schumanns Frühlingssymphonie etwas mit Wagners Judenthum in der Musik zu tun hat, ist kaum von der Hand zu weisen und ein so origineller wie wertvoller Hinweis auf die Wirkungsgeschichte des Traktats in seiner zweiten Fassung von 1869. Bergs Zitiertechnik im Wozzeck, die sich durchaus von der Strauss’schen unterscheidet, Gounods Faust im Intermezzo und Don Giovanni im Wirtshausgarten: all diese Erscheinungen werden nicht allein benannt, auch für die Kulturgeschichte der Oper fruchtbar gemacht, die oft gleichermaßen aus Tradition und Revolution besteht, im Fall Strauss auch aus Antipathie besteht.
Nebenbei: Konrad vermag es sogar im Fall des relativ leichtgewichtigen und notorisch unterschätzten wie köstlichen Intermezzo, Straussens Avantgarde zu belegen, denn Intermezzo ist die erste jener „Zeitopern“, die, auch mit Schönberg im Gepäck, zumindest in den 20er Jahren ihre Zeit hatten. Erstaunlich, dass Bermbach et. al. das so Offensichtliche übersehen konnten.
Zuletzt geht es, soweit der Bühnenkomponist Strauss betrachtet wird, um die Frage, wie die verschiedenen Text- und Musik-Kompositionen zum Bürger als Edelmann und zur Ariadne auf Naxos wissenschaftlich optimal, am besten digital ediert werden sollten; der Fall ist ja, angesichts der vier Hauptfassungen von op. 60, ungewöhnlich vertrackt – und philologisch spannend. Weniger spannend als gründlich, dabei glänzend lesbar, auch wenn Konrad sehr selten, pointiert ausgedrückt, zu latent infertilen Manierismen neigt (nein, das ist kein Ethnophaulismus gegenüber der Zunft der Musikwissenschaftler), sind seine Einführungen zu Tristan und Parsifal. Wer noch nicht wusste, wie Wagner den Tristan und den Parsifal niederschrieb, wie er also konkret arbeitete, erhält mit den beiden Begleittexten zu den Editionen die besten und zugleich konzisesten Auskünfte. Nur die Körpergröße des Komponisten wird, soviel Beckmesserei muss sein, mit 1 Meter 60 um rund sechs Zentimeter zu wenig angegeben. Ansonsten weiß der Musikwissenschaftler um die Größe schon des jugendlichen Wagner, dessen Feen für Konrad keine „Jugendsünde“, sondern ein veritables Werk sind: das selbstbewusste wie zielstrebig agierende Jung-Genie im Geburtsprozess eines großen Opernkomponisten deutlich auf dem Weg zu sich selbst zeigend.
Man möchte schon aufgrund dieses so typischen wie erfrischenden Beitrags, der den jungen Wagner souverän beurteilt, dem Opern- und Wagnerfreund und -Feind den Band empfehlen. Und auch der Vortragstext der „Münchn’ner Geschichten“, in dem das scheinbar Kleine (ein frühes geistliches Aufklärungsgespräch mit einem Münchner Benediktiner) mit dem Großen (der späte Parsifal) sprachlich ungewöhnlich heiter aufgelegt in Verbindung gebracht wird, ist ein Kabinettstück anschaulicher Musik- und Operngeschichtsschreibung. Mozart kommt übrigens in diesem Aufsatz, ganz am Rande, auch vor, so wie Beethoven (Chorfantasie), Bach und Brahms, Gershwin (An American in Paris), Milhaud und Honegger (Symphonie liturgique), Britten (Cantata Academica), Strauss’ Deutsche Motette, Liszts Symphonische Dichtungen und neueste Apokalypse-Vertonungen (Klaus Huber) im Sammelband als Komponisten paradieren. Daneben stehen übergreifende Arbeiten: zu Komponistenschriften, Vokalgattungen, Komponistenwitwen und anderen Köstlichkeiten.
Sie hinterlassen selbst den „Kenner“ unter den Lesern stets klüger als zuvor geahnt.
Frank Piontek, 21. März 2025
Ulrich Konrad: Musikgeschichte und Philologie. Ausgewählte Schriften 1997-2015
Hrg. von Andreas Haug und Oliver Wiener
Königshausen & Neumann, 2024
903 Seiten. 78 Euro