Buchkritik: „Strauss – Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt“, Michael Lemster

An ein Déjà-vu mag nach wenigen Seiten Lektüre glauben, wer das neueste Buch von Michael Lemster mit dem Titel Strauss-Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt liest und an die Entdeckung eines Rechtschreibfehlers gleich auf dem Cover glaubt, denn unterschieden sich der Opern- und die Operetten- und Walzerkomponisten nicht durch des einen ss und der anderen ß voneinander? Schnell findet sich eine Antwort auf die Frage nach der korrekten Schreibweise, etwas länger dauert es, bis der Leser sich im Klaren darüber ist, dass er ein Buch wie das über die Familie Strauss bereits einmal gelesen hat, und zwar das über die Familie Mozart. Auch da war er etwas enttäuscht darüber, dass ihm zwar fast eine Enzyklopädie über das Leben im 17. und 18. Jahrhundert mit allen seinen Teilbereichen geliefert wurde, nicht aber etwas über die Musik des Genies, durch das die Familie bekannt wurde. Vertraut ist auch der gemütvolle Plauderton, die anheimelnde Behäbigkeit, die das gesamte Buch durchziehen, ist das Ausschweifen in alle Lebensbereiche zumindest der Wiener, sind die Abstecher in Seuchenkunde, Kriegstechnik, Boulevardgetuschel wie das Liebesleben von Metternich, die Architektur im Wandel der Zeiten, der Ausbau des Verkehrswesens und gern auch die Diagnosen auf den Totenscheinen der Familie. Inwiefern diese, der man sicherlich nicht ihre Verdienste um die Musik und damit das gesellschaftliche Leben nicht nur in Wien absprechen will, die Musikwelt aber revolutionierte, bleibt ebenso im Dunkel wie sogar der Inhalt der drei bekanntesten Operetten von Strauss Sohn, Eine Nacht in Venedig, Der Zigeunerbaron und Die Fledermaus, während ausführlich über Schwierigkeiten mit den Libretti berichtet wird. Man merkt auch diesem Buch an, dass der Autor kein Musiker ist, was keine Schande ist, wohl aber das Kokettieren mit dem im Untertitel gegebenen Versprechen. Immerhin muss man bis zur Seite 101 warten, bis es wirklich um Vater und Sohn Johann Strauss geht.

Es gibt auch einige kleine Ungenauigkeiten, die aber bei dem Anspruch, den das Buch erhebt, störend wirken, so der Begriff „Engelmacherin“ für Frauen, zu denen Kinder in Pflege gegeben wurden, das um einige Strophen beschnittene Lenau-Gedicht über die drei Zigeuner, das falsche Zitat, das Brahms auf einem Ballfächer hinterließ, die „Schöne blaue Donau“ betreffend, der mögliche Hochzeitstanz Napoleons mit Marie-Luise in Wien, wohin der französische Kaiser doch einen Stellvertreter entsandt hatte. Unangenehm anbiedernd wirken die hinkenden Vergleiche damaliger Musikereignisse mit denen unserer Zeit, etwa mit Woodstock oder den Beatles.

Bei so heikler Quellenlage wie zur Familie Strauss ist es natürlich notwendig, immer und immer wieder zu Floskeln zu greifen wie „es liegt nahe“, „vielleicht wird der zehnjährige Johann“, „wir wünschen uns für…“, oder sogar ein im Vornherein die Unmöglichkeit betonendes „unbelegt und unwahrscheinlich“, ein „leicht vorstellbar ist“, ein „und es mag sein“. Der Konjunktiv, die Konjunktion oder und das Fragezeichen werden in ungewöhnlich häufigem Maße bemüht, und Wendungen wie die oben zitierten durchziehen das gesamte Buch und ermüden den Leser genauso wie die immer wieder gegebenen Versprechen oder Drohungen, je nachdem ob man Musikalisches erhoffen oder Gesamtgesellschaftliches befürchten muss, die das gesamte Buch durchziehen.

Zum Glück gibt es auch einiges wirklich Interessantes und zugleich tatsächlich die Familie Strauss direkt Betreffendes wie die Verlegenheit der Nazis, in die diese durch die teilweise jüdische Abstammung der Komponisten des Radetzky-Marschs und der Fledermaus gerieten. Sehr wichtig ist der Stammbaum der Familie Strauss, auf den man beim Lesen immer wieder zurückgreifen kann und muss, und konkreter und näher zur Familie Strauss wird es und ist man, wenn Johann Strauss Sohn oder auch „Jean“ im Mittelpunkt steht, weil da die Quellenlage besser ist. Es gibt einiges an Briefmaterial, in dem über die Musik allerdings wenig zu finden ist. Man erfährt einiges über das schwierige Verhältnis zwischen Vater und Sohn, über den unbefangenen Umgang mit fremdem geistigen Gut, so wenn Opernmelodien sofort nach der Uraufführung auch von er sogenannten leichten Muse verwertet werden, wie sofort auf jedes dafür geeignete Ereignis mit einer musikalischen Antwort reagiert wird. Interessant, wenn auch nicht das im Titel gegebene Versprechen einlösend, ist die Geschichte von Scheidung, Übertritt zum protestantischen Glauben und zur sachsen-coburgischen bzw. deutschen Nationalität durch Jean.

Weit vor wagt sich der Autor mit der durch und durch negativen Beurteilung von Kaiser Franz Joseph I., viel Platz beansprucht er für alles das, was Jean nicht machte, sehr viel über das Wann, Wohin und mit welchem finanziellen Ertrag von Gastspielreisen, die oft nach Russland, aber sogar auch in die USA führten. Die Vielseitigkeit des Buches ist kaum zu überbieten, entspricht aber nicht dem Anspruch, nachzuweisen inwiefern die Familie Strauss die gesamte Musikwelt revolutionierte, zu der weiterhin nicht nur (wunderbare) Tanz- , Operetten- und sonstige Unterhaltungsmusik gehörte.

Danksagung, weiterführende Literatur, Personenregister, Bildnachweis und Anmerkungen vervollständigen das Buch.

Ingrid Wanja, 30. Mai 2024


Michael Lemster:
Strauss – Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt

Benevento Verlag Wien, 2024
496 Seiten
ISBN 978 3 7109 0165 2