„What in the hell are you doing, Franco?“, durchfuhr es Sherill Milnes, 1985 als Jago im Hamburger Otello, angesichts der Vorstellung, die Franco Bonisolli am Ende des dritten Aktes gerade gab. Stolz hatte dieser ihm bei den Proben erzählt, sich mithilfe eines Arztes umfassende Kenntnis über epileptische Anfälle angeeignet zu haben, mit denen er die genannte Szene entsprechend gestalten wollte. Milnes solle einfach seine Rolle wie gewohnt singen und ihn machen lassen. Was sich dann auf der Bühne abspielte, schockierte nicht nur den Bariton, sondern vor allem das anwesende Publikum: „Franco, however, after he fell, continued to twitch in convulsions and somehow was able to push some spittel out of his mouth, drooling to the end of the act as well as continuing to make guttural noises. The audience, seeing this so-called realism so overdone began to laugh and kept laughing until the curtain came down.“ Ungeachtet der Publikumsreaktion und der seiner Kollegen behielt Bonisolli diese Felix Krull-artige Performance auch in den folgenden Aufführungen bei.
„Es ist schwierig zu beantworten, ob ich mich selbst engagieren würde“, so der Tenor über sich. Für die einen ist er ein überkandidelter Schreihals ohne Manieren und mit fraglichem Modestil, für die anderen der verläßliche Ritter des hohen Cs und noch höherer Töne, der immer alles gab, auf der Bühne und beim Autogrammeschreiben. Selten wohl war das Publikum in zwei so extreme Lager gespalten.
Wer nun aber war dieser auffällige Typ wirklich? Die Biographie Franco Bonisolli – Tenor ohne Grenzen von Gregor Hauser geht dieser Frage auf zweierlei Arten nach. In Teil A, „Die Biographie“, rekonstruiert der Autor die Karriere des Sängers, in Teil B, „Annäherung an die Persönlichkeit“, läßt er Weggenossen, Fans und Kollegen zu Wort kommen, um sich dem Menschen Franco Bonisolli zu nähern. Ergänzt wird das Buch durch zahlreiche Abbildungen, die zunächst einen hochgewachsenen, gutaussehenden jungen Mann zeigen, dessen erste große Rollen jugendliche Liebhaber wie Des Grieux und Alfredo sind. Dafür scheint er auch mit seiner lyrisch-weichen Stimme prädestiniert und so ist seine Verpflichtung 1967 im Film La Traviata neben Anna Moffo nur logisch. Auf den späteren Aufnahmen ist dann ein weiterhin sportlich-schlanker Strahlemann zu erkennen, sehr viele weiße Zähne, sehr viele schwarze Locken, stets ein großes, schweres Goldkreuz auf behaarter Brust und immer irgendwie ein bißchen drüber. „Schaut her, ich bin’s“ ruft es von allen Bildern (schon klar, der Prolog bzw. der Tonio, im Bajazzo wird von einem Bariton gesungen…).
Er liebt die Öffentlichkeit, er liebt es, auf der Straße erkannt und angesprochen zu werden. Und er liebt, sehr zum Leidwesen seiner ersten Ehefrau und Lebensliebe Sally, die Frauen, die sich ihm nur zu gern an den Hals werfen. Aber in ihm nur den oberflächlichen Brüller zu sehen, wäre ganz falsch. Neben der Bühne kann er auch ein Mann der leisen Töne sein, liebt Goethes Dichtung, verzieht sich nach Sallys Tod länger nach Tibet, lernt alte Sprachen, ist tief religiös.
Bonisolli, 1937 in Rovereto als drittes von vier Kindern geboren, wächst kriegsbedingt unter schwierigen Umständen auf, „Armut und Hunger waren damals meine Lebensschule“. Kurz vor seinem 14. Geburtstag stirbt seine Mutter, der Vater ist mit vier halbwüchsigen Söhnen überfordert. Einen Beruf erlernt Bonisolli, wie sein Bruder Renato später sagt, nicht. Schauspieler möchte er zunächst werden, schlägt sich Anfang der 50er Jahre in verschiedenen Bereichen der Gastronomie rund um den Gardasee singend und kochend durch. Der Besuch einer Carmen-Aufführung in der Arena di Verona wird zur Initialzündung in Sachen Berufswunsch. Nach verschiedenen Studien erlangt er 1961 beim „Concorso Adriano Belli“ in Spoleto in der Kategorie Tenor lediglich Platz 3; bei den Baritonen gewinnt übrigens der damals 25-jährige Renato Bruson. Kurz darauf debütiert Bonisolli ebenda beim von Giancarlo Menotti gegründeten „Festival dei Due Mondi“ in der Rolle des Ruggero in Puccinis La rondine. Er wird später immer wieder nach Spoleto zurückkehren und auch mit Menotti arbeiten.
Mit Sally, die ihre eigene Gesangskarriere zugunsten seiner aufgegeben hat, als Managerin an seiner Seite erobert er von Rom aus zunächst die Bühnen Europas, hangelt sich von Engagement zu Engagement, ohne sich fest an ein Haus zu binden. Und dann endlich, 1969, ruft auch die Scala, und alle großen Häuser inklusive der „Met“ folgen mit Angeboten für großen Rollen und Premieren. Stimmlich lässt er sich dabei ungern festlegen, sein Repertoire reicht von Scarlatti bis Menotti und Rota.
Aber mit dem Ruhm kommen auch erste Allüren, Wutausbrüche, unberechenbares Verhalten vor und hinter der Bühne lassen manchen Intendanten verzweifeln. Wenn ihm etwas nicht passt, sei es die Klimaanlage oder eine zu lange Probe, geht er einfach von der Bühne ab. Viele Geschichten werden erzählt; nicht alle sind wirklich so drastisch gewesen, wie verschiedentlich überliefert. So hat er Herbert von Karajan bei der Probe der Troubadour-Stretta das Schwert im Gehen nicht vor die Füße geworfen, sondern wohl höflich unter der Mitteilung, die Probe sei zu lang und er hätte jetzt Hunger, abgelegt… Als Piero Cappucilli bei einer Aufführung von Guillaume Tell seine Arie aufgrund des großen Jubels wiederholt, singt natürlich dann auch Bonisolli seine große Arie zweimal, obwohl er dafür nach dem ersten Mal nur höflichen, doch eher überschaubaren Beifall erhält.
So befindet sich Ende der 80er Jahre Bonisollis Karriere schon im Niedergang. Gesanglich scheint sich die Leistung der dramatisch-viril entwickelten Stimme mangels tragender Mittellage zunehmend auf das Produzieren von hohen Tönen in besonderer Lautstärke zu beschränken. Und der Haussegen hängt aufgrund verschiedener amouröser Ausflüge auch ziemlich schief. 1990 verschwindet das Ehepaar Bonisolli plötzlich von der Bildfläche und privatisiert in seinen amerikanischen Besitzungen. Der Tod seines Lebensmenschen Sally 1996 trifft den Tenor schwer. Nach einer Zeit des Rückzuges nach Tibet wagt er 1998 jedoch ein Comeback. Die Konzerte und Opernauftritte u. a. in Moskau, Wien, Hamburg und Rom werden zum Erfolg. Privat findet er noch einmal ein spätes Glück und heiratet die junge polnische Mezzosopranistin Agnieszka Sobocinska.
Doch auch dieser Ruhm verfliegt alsbald, peinliche und begeisternde Aufführungen wechseln sich ab. Ein Konzert 2002 in München endet im Fiasko. Weil zu wenig Karten verkauft werden, kann der Veranstalter die Gage nicht zahlen. Nach wenigen Tönen bricht der Tenor seine Arie ab, beschimpft den Dirigenten, den Veranstalter und verlässt die Bühne. Andere Stimmen berichten, mit diesem Abgang hätte er den Verlust seiner Stimme überspielt. Seinen Auftritt als Turiddu in der Cavelleria Rusticana in Palermo wenige Monate später beendet er mit dem Zeigen obszöner Gesten ins Publikum. Dazwischen liegen umjubelte und von der Kritik gefeierte Konzerte. Dennoch lässt sich die deutlich nachlassende Stimme nicht mehr verleugnen und nach dem unrühmlichen Abgang in Palermo, der gleichzeitig das traurige, weil unangemessene Ende seiner doch bemerkenswerten Karriere bedeutet, erhält er kein Engagement mehr, nirgends. Ob seine Ausfälle bereits Vorboten des wenig später diagnostizierten Hirntumors sind, lässt sich nicht bestätigen, liegt aber nahe. Seine letzten Monate verbringt Bonisolli, von Familie und Freunden durch seine Ehefrau weitgehend abgeschottet in Monte Carlo. Dort stirbt er, einen Tag nach Franco Corelli, fast unbemerkt mit nur 66 Jahren am 30. Oktober 2003.
Dieses schillernde Leben hat Gernot Hauser nun mit seinem Buch wieder ins Rampenlicht geholt. Akribisch hat er mit großem Aufwand alle verfügbaren Informationen wie u. a. Interviews, Zeitungsausschnitte, Kritiken etc. zusammengetragen. Wenig hat Franco Bonisolli über sein Privatleben und über sich preisgegeben. Um so beeindruckender ist das Ergebnis, denn vor allem die Anfangsjahre bis zum großen Durchbruch sind geradezu minutiös rekonstruiert. Die Begeisterung für den Sänger liest man in jedem Abschnitt des ersten Teils, wobei dem Autor gelegentlich die Pferde etwas durchgehen. Das ist nur zu gut zu verstehen, Formulierungen wie „unser Franco“ oder diverse Mutmaßungen über mögliche Gefühlszustände und Gedanken sind jedoch Geschmackssache. Hier wäre ein umsichtiges Lektorat wünschenswert gewesen, was auch für das Druckbild gilt; warum manche Kapitel fettgedruckt sind, erschließt sich nicht. Das kann und darf aber die Leistung Gregor Hausers nicht schmälern. Das Leben und die Eskapaden des Tenors ohne Grenzen sind geradezu ein Pageturner und man liest diese Biographie mit großem Vergnügen.
Eine wunderbare Ergänzung sind die vielen persönlichen Berichte im zweiten Teil. Dort kommen Kollegen zu Wort, wobei es sich lohnt, zwischen den Zeilen zu lesen. Geradezu berührend sind die Schilderungen des Ehepaars Vetrovsky aus Wien, Vorsitzende der „Amici di Franco Bonisolli“ und enge Freunde des Tenors. Sie, wie auch andere haben etliche Bilder des Sängers beigetragen, die den Privatmann ebenso zeigen wie den Bühnenstar, wobei die Kostüme mit dem heutigen Auge gesehen mitunter Anlass zu großer Erheiterung geben…
Dieses Buch sei allen Freunden der Oper und Interessenten an außergewöhnlichen Sängern, Typen außerhalb jeglicher Glattheit und Beliebigkeit, an denen es heute so fehlt, dringend ans Herz gelegt. So mancher wird nach der Lektüre und der Entdeckung dieser besonderen Persönlichkeit sein Urteil über den „Schreihals“ ganz sicher überdenken.
Regina Ströbl, 13. Januar 2025
Gregor Hauser: Franco Bonisolli – Tenor ohne Grenzen
Verlag Reinhard Marheinecke, Hamburg 2024
292 S., Zahlreiche s-w und farbige Abb.
€ 35,00, ISBN: 978-3-947403-48-6.