CD: „Adriano in Siria“, Carl Heinrich Graun

Wie sich die Zeiten ändern… 1981 kam eine Aufführung von Carl Heinrich Grauns Montezuma im Berliner Hebbeltheater einer Sensation gleich. Als 1992, zum 250jährigen Jubiläum jenes Hauses, in dem er seinerzeit Triumphe gefeiert hatte, Cleopatra e Cesare herauskam, war auch dies noch eine absolute Rarität. Inzwischen liegen, mit der Mexiko- und der Ägypten-Oper, von den insgesamt 32 Opern des Berliner Meisters nicht weniger als sechs auf Tonträgern vor: neben dem Montezuma (dem man vor gut zehn Jahren eine schöne Ausstellung in der Berliner Staatsbibliothek widmete) und der Cleopatra sind dies Polydorus, die herausstechende Ifigenia in Aulide, Silla – und nun Adriano in Siria.

Wir verdanken diese Kostbarkeit – eines der 27 für Berlin geschriebenen Bühnenwerke – der unermüdlichen Dorothee Oberlinger und ihrem Ensemble 1700. Erst kürzlich kam mit Johann Friedrich Agricolas Achille in Sciro ein jüngeres Werk des gleichfalls am Berliner Hof arbeitenden und wesentlich glückloseren Agricola als CD-Box heraus (https://deropernfreund.de/buecher-discs/silberscheiben/cd-achille-in-sciro-johann-friedrich-agricola/), nun erweitert sich der Horizont der friderizianischen Hofoper von Neuem. Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen der Verfasser des Graun-Artikels der Neuen Deutschen Biographie zu schreiben hatte, dass „der einstige Ruhm des Hauptes der Berliner Schule verblasst“ sei, „ebenso wie seine Kompositionen den heutigen Beurteilern vielfach blass erscheinen sowohl gegenüber der ihm vorausgegangenen Periode Bachs und Händels wie auch gegenüber der nachfolgenden Haydns und Mozarts.“ Und Georg Feder attestierte dem vom Preußenkönig verehrten Komponisten, dass zu seiner Zeit „die glatte und oft etwas gleichförmige Bel-canto-Musik des Kapellmeisters Friedrichs des Großen ein Ideal bedeutet“ habe. Die Zeitgenossen haben die Meriten Carl Heinrich Grauns tatsächlich zu schätzen gewusst. Johann Philipp Kirnberger, ein bedeutender Musikschriftsteller der Epoche, stellte durchaus das Richtige fest, als er behauptetet, dass Grauns Melodie „eine der angenehmsten unter (wir sagen nicht zu viel) allen Componisten“ gewesen sei. Und er schloss seinen Lobspruch: „Ob es gleich seinen Singstücken am gehörigen Feuer fehlte: so war doch der Ausdruck des Angenehmen, Schmeichelhaften und Zärtlichen bei ihm derjenige, der ihm im Ganzen genommen, immer am besten gerieth. Seine Adagio’s sind besonders Meisterstücke, und entsprechen seinem leutseligen, freundlichen und zärtlichen Charakter vollkommen.“ Kein Wunder also, dass er in deutschen Landen der einzige ernstzunehmende Konkurrent Johann Adolf Hasses war – und noch weniger verwunderlich, dass sein Oratorium Der Tod Jesu bis ins 20. Jahrhundert oft und gern gespielt wurde. Kurz nach seinem Tod pries ihn Friedrich Wilhelm Zachariä als einen Mann, „der sich mit nichts als unserm Herzen unterhielt“.

Man kann das nun wieder hören: das Sentiment, das insbesondere in den Arien steckt, die den Komponisten des 1746 uraufgeführten Adriano in Siria – einer Oper auf ein erstmals 1732 von Antonio Caldara vertontes Textbuch des Librettofürsten Pietro Metastasio – zu einem Vorreiter der Empfindsamkeit machen. Wenn der Counter Valer Sabadus in der Titelrolle des Römerkaisers Hadrian und der Sopranist Bruno de Sá als syrischer Amant Farnaspe den Herzen ihrer letzten Endes edelmütigen Figuren vollen Ausdruck verleihen, indem sie alles an Schmelz hineingeben, wird Kirnbergers Diktum nur bestätigt. Viele der 19 Arien gehören dem Adagio-Genre an, die anderen bewegen sich in den Bahnen, die von Graun nicht über die Maßen ausgeweitet, aber deutlich in Richtung „Vorklassik“ angelegt wurden. Wer hier und da Mozart-Töne hört, hört richtig, auch wenn Mozart erst 20 Jahre später sein erstes Bühnenwerk schuf. Zwischendurch wird, im Stil der Zeit, gleichsam improvisiert; einige der Kadenzen stammen aus der Feder von Massimiliano Toni. Besonders entzückend sind die „orientalischen“ Fiorituren, die Sabadus in einem besonders erregten Moment um die Bellissima Emirena windet: die Angebetete, die wiederum den Feraspe liebt, der… Undsoweiter – im  Beziehungsquintett, geht schließlich, als wär’s eine Variante von La Clemenza di Tito (auch dort gibt es einen Anschlag auf den Herrscher), am Ende nicht der Kaiser, sondern ein intriganter Untergebener leer aus. Das gibt die Gelegenheit für einige Accompagnati, während die Arien – das ist das Moderne dieser Partitur – oft aus dem Rezitativ herauszuwachsen scheinen. Selbst die Gleichnisarien haben ihren authentischen Platz im dramaturgischen Gebilde. Wunderbar die Hörner, die hier den Löwen malen (Fabio Forgarini und Konstantinis-Sokratis Siskos), exquisit die Flöten, die nicht allein in Farnaspes Partirò, bella tiranna solistisch zu tun haben (Henrieke Wassermeyer und Yu Ma). Am Cembalo sitzt Olga Watts, sie arbeitet sich mit Verve und dem Lautenisten Axel Wolf durch die Strudel der emotionalen Rezitative und vergegenwärtigt die Gegenwart der Empfindsamkeit(en). Die Zeitgenossen hatten schon Recht: Grauns Musik ist einfach „schön“ – so schön wie das Duett von Farnaspe und Emirena, mit dem der erste Akt effektvoll schließt, so schön, wie Farnaspes Arioso Ov’è il mio bene? Während sich die Stimmen Adrianos und Farnaspes kontrastiv ergänzen, haben die der Emirena und der Sabina, der Geliebten und zwischenzeitlich vom Kaiser Vergessenen, hörbare Ähnlichkeit. Roberta Mameli und Keri Fuge könnten vokale Schwestern sein, was insofern zur Dramaturgie passt, als dass Sabina ihrer zunächst als Konkurrentin um des Kaisers erotische Gunst wahrgenommenen Kontrahentin schon schnell zu Hilfe kommt. Der König Osroa, stolzer abgesetzter Herrscher seines Landes und vehementer Gegner des Usurpators, des David Tricou bildet als dunkler Tenor den größten Kontrast zum Ensemble. Bleibt der Aquilio des Federico Fiorio: neben Bruno de Sá der zweite Sopranist, der, anders als sein Kollege, denn doch nicht die Frau bekommt, die er begehrt. Alle zusammen aber bilden ein homogenes Ensemble, das die Kraft des Dramas auch ohne Bildspur zu realisieren vermag.

Vorbei also die Zeiten, in denen man beklagen musste, dass Graun von der Aufführungspraxis „zu wenig beachtet“ werde, weil die Gattung der Opera seria als „reformbedürftiges Genre“ wahrgenommen werde. Doch konnte Walter Rösler in seinem Abriss über die Geschichte der Italienischen Hofoper 1742 – 1806 (in Das „Zauberschloss“ unter den Linden) schon 1997 einen leisen Wandel in der Rezeption auch der Graunschen Werke feststellen. Nach Montezuma und Cleopatra e Cesare wusste man, dass gute Aufführungen der Graun-Opern „nachhaltige künstlerische Erlebnisse vermitteln können“. Heute gehört das Ensemble 1700 mit seinem feinen Gespür für die zarten Valeurs der Graunschen Muse zu jenen Truppen, die die Schönheit der Werke Metastasios und Grauns ins Heute zu bringen vermögen. Dass der Mitschnitt einer Aufführung der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci jetzt als Konserve vorliegt, dürfte / müsste nach den vorliegenden Opern-Einspielungen den Nachruhm des Hofkapellmeisters nur vergrößern.

Frank Piontek, 11. Juli 2025


Carl Heinrich Graun
Adriano in Siria

deutsche harmonia mundi
Ensemble 1700