DVD: „Das Rheingold“ – die umstrittene Tcherniakov-Produktion

Bei dem Label Unitel wird in den nächsten Monaten sukzessive ein im Jahr 2022 an der Berliner Staatsoper Unter den Linden aufgenommener Livemitschnitt von Wagners Ring des Nibelungen auf DVD erscheinen. Bis Juli sollen alle vier Teile veröffentlicht sein. Den Anfang machte jetzt ein insgesamt gelungenes Rheingold. Dmitri Tcherniakov zeichnet in Personalunion für Inszenierung und Bühnenbild verantwortlich, die Kostüme stammen von Elena Zaytseva.

Dmitry Tcherniakov interessieren in erster Linie Verhaltensmuster und -weisen der menschlichen Spezies. Diese sucht er in seiner überzeugenden Regiearbeit zu ergründen. Demgemäß siedelt er die Handlung in einem Forschungszentrum mit dem bezeichnenden Namen E.S.C.H.E. an. Über diesen Spielort gibt bereits der Lageplan auf dem Vorhang Aufschluss. Hier werden großangelegte Versuche am lebenden Menschen durchgeführt. Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man die unserer Zeit angehörenden, modern gekleideten Götter in einem Konferenzraum sitzen und still der Dinge harren, die da kommen werden. Im nebenan gelegenen Stress-Labor wird der an einen Stuhl gefesselte Alberich von den als Forscherinnen des Instituts im weißen Laborkittel gedeuteten drei Rheintöchtern einem Stresstest unterworfen. In immer stärkerem Maße reizen und provozieren sie ihn. Unter den Augen einiger neugieriger Beobachter missbrauchen sie  ihn als Versuchskaninchen. Das Rheingold gibt es in Tcherniakovs Interpretation nicht. Alberich zerstört am Ende wütend das Stresslabor und macht sich mit einem wirren Haufen von Drähten und Papier davon. Im Raucherzimmer nebenan qualmen die noch jungen, bereits hier auftretenden Nornen genüsslich ihre Zigaretten. Hier haben wir es mit einem trefflichen Tschechow’ schen Element zu tun.

Der Beginn der zweiten Szene spielt sich in einem Hörsaal ab. Tcherniakov gelingen hier einige eindringliche Personenzeichnungen. Wotan ist der Leiter des Forschungszentrums. Einen Speer hat ihm der Regisseur versagt. Ein solcher hätte in dieses Ambiente auch gar nicht hineingepasst. An die Stelle der Augenklappe des Göttervaters tritt eine Sonnenbrille. Wotan empfängt die ein ganzes Gefolge mit sich führenden Bauriesen Fasolt und Fafner in einem Konferenzzimmer, das von den Büsten der früheren Leiter des Forschungszentrums gesäumt wird. Viel Respekt zeigen die Riesen vor Wotan nicht. Besorgt fragt dieser telefonisch an der Pforte nach, wo Loge nur bleibt. Vergeblich versucht er, diesen auf seinem Handy zu erreichen. Der Feuergott ist ein im gelben Anzug auftretender und mit einer Brille ausgestatteter Winkeladvokat, der der Leitung des Instituts als Berater zur Seite steht. Fricka wird von Tcherniakov als elegante Dame vorgeführt. Neben dem Konferenzzimmer erblickt man das Atrium des Forschungszentrums, das von einer Esche dominiert wird. Das erste Untergeschoss beherbergt eine Tierversuchsstation, in der an einer tierischen Testgruppe menschliche Verhaltensmodelle untersucht werden.

Mit dem Aufzug fahren Wotan und Loge hinab in das im zweiten Untergeschoss angesiedelte Nibelheim. Auf den Anzügen der als Arbeiter dargestellten Nibelungen sind deren jeweilige Namen zu lesen. Auf einen irgendwie gearteten Hort verzichtet Tcherniakov. Objektiv spart er auch die Verwandlungen Alberichs aus. Diese sind nur eine Imagination des Zwerges und finden lediglich in seinem Kopf statt. In dem Augenblick, in dem Alberich sich in eine Kröte verwandeln soll, ruft Wotan per Telefon zwei Pfleger des Instituts herbei, die dem Nibelung kurzerhand Fesseln anlegen.

Das Heraufschaffen des Hortes durch die Nibelungen an die Oberfläche in Wotans Büro entspringt in gleicher Weise wie die Verwandlungen nur der Einbildungskraft Alberichs. Er stürzt nach der Verfluchung des Rings nicht, wie in anderen Produktionen des Werkes oft zu sehen, zornig davon, sondern sinkt im Konferenzraum erschöpft auf einen Stuhl nieder, bevor er sich von den beiden Pflegern, denen er ihr Verhalten nicht übel nimmt, bereitwillig davonführen lässt. Erda wurde bereits im zweiten Bild, auf der Ballustrade des Laboratoriums umhergehend, Zeugin des Geschehens. Auch hier lässt Tschechow wieder schön grüßen. Inzwischen hat sie über das Gesehene reflektiert und präsentiert nun die von ihr gezogene negative Bilanz warnend den Göttern. Es ist aber zu spät, der Fluch entfaltet seine Wirkung. Fafner erschießt Fasolt von hinten mit einer kleinen Pistole, die er aus seinem Mantel herausholt. Der im Atrium stattfindende Gewitterzauber, bei dem Donner gekonnt Taschenspielertricks vor Publikum vorführt, wird zur Geburtsstunde des Schwertes Notung. Am Ende bleibt Wotan einsam an der Esche zurück, trüb sinnend, was die Zukunft wohl bringen wird. Dabei wird er von den vom Regisseur nun oben auf der Ballustrade positionierten Rheintöchtern heimlich beobachtet. Das ist eine erfrischend neue Sichtweise des Rheingolds, die von Tcherniakov mit einer ausgezeichneten, flüssigen und stringenten Personenregie auch spannend auf die Bühne gebracht wird.

Im Orchestergraben ist Christian Thielemann ganz in seinem Element. Mit großer Raffinesse, spannungsgeladen und klangschön weist er der hervorragend disponierten Staatskapelle Berlin den Weg durch Wagners Partitur. Dabei schlägt er recht gemäßigte Tempi an, was einer vorzüglichen Transparenz Vorschub leistet. Bei aller genauen Detailarbeit gelingt es dem Dirigenten auch durchweg, den großen musikalischen Zusammenhang aufrechtzuerhalten und mit enormen Steigerungen aufzuwarten.

Nun zu den gesanglichen Leistungen: An erster Stelle ist hier Michael Volle zu nennen, der sich mit vorbildlich gestütztem, intensivem, ebenmäßig geführtem und ausdrucksstarkem Bariton in die erste Reihe der Wotan-Vertreter singt. In Nichts nach steht ihm Johannes Martin Kränzle, der mit ebenfalls trefflich fundierter Bariton-Stimme und einer markanten Diktion einen vorzüglichen Alberich gibt. Enttäuschend dagegen mutet Rolando Villazon an, der als Loge seine besten Zeiten deutlich hinter sich hat. Er bleibt dem Feuergott vokal einiges schuldig. Schauspielerisch ist er besser. Hervorragend schneidet dagegen Claudia Mahnke ab, die der Fricka mit profundem Mezzo-Klang und perfekter Linienführung ein eindrucksvolles stimmliches Profil verleiht. Solide ist Anett Fritschs Freia. Mit vollem, rundem und eindringlichem Mezzosopran stattet Anna Kissjudit Erdas Warnung aus. Wunderbar sonores, ebenmäßig dahinfliessendes und bestens italienisch fokussiertes Bass-Material bringt Mika Kares in die Rolle des Fasolt ein. Demgegenüber fällt der Fafner des nicht gerade über viel vokales Volumen verfügende Peter Rose ab. Der kraftvolle und phantastisch im Körper verankerte Tenor von Stephan Rügamer stellt eine Luxusbesetzung für den Mime da. Diesen imposanten Sänger möchte man auch gerne einmal als Loge hören. Demgegenüber singt sein Stimmfachkollege Siyabonga Maqungo den Froh ausgesprochen dünn. Ein markanter Donner ist Lauri Vasar. Die voll und rund intonierenden Rheintöchter von Evelin Novak (Woglinde), Natalia Skrycka (Wellgunde) und Anna Lapkovskaja (Floßhilde) bilden einen homogenen Gesamtklang.

Fazit: Ein insgesamt gelungener Ring-Auftakt auf DVD, dessen Anschaffung durchaus zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 19. April 2024


Das Rheingold
Richard Wagner
Staatsoper Berlin Unter den Linden

Inszenierung: Dmitry Tcherniakov
Musikalische Leitung: Christian Thielemann

Unitel
Best. Nr.: 809808
2 DVDs

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