Wer „Pinocchio“ hört, denkt im ersten Moment vermutlich vor allem an eine Holzpuppe mit langer Nase. Und vielleicht noch daran, dass Lügen nichts bringen und letztlich meistens auffliegen. Aber ist das wirklich die ganze Geschichte? Oder steckt darüber hinaus womöglich noch mehr in Carlo Collodis 130 Jahre alter Erzählung vom Holzschnitzer Geppetto, der eines Tages aus einem Stück Pinienholz einen kleinen Buben schnitzt, welcher unversehens zum Leben erwacht und als allererstes auf hölzernen Beinchen seinem verdutzten Schöpfer davonläuft…?

Das war von der Deutschen Oper am Rhein beauftragt worden, ein Stück zu kreieren, bei dem der Kinderchor die Hauptrolle spielt – und das im weitesten Sinne mit Pinocchio zu tun haben sollte.
Tatsächlich hatte der Kinderchor vom ersten Tag der Entstehung eine Schlüsselrolle inne, denn die beiden Autoren erforschten den Pinocchio-Stoff im Rahmen eines Workshops gemeinsam mit den künftigen Hauptdarstellern, diskutierten die verschiedenen Abenteuer der Titelfigur, entdeckten Parallelen zum heutigen Leben und entwickelten so aus den Gedanken und Äußerungen der Kinder die Textgrundlage für die spätere Oper. Herausgekommen ist ein durch und durch vergnügliches Libretto, das vor Tiefgang, Originalität und klugem Humor nur so birst und an dem kleine wie große Zuschauer ihren Spaß haben und sich darin wiederfinden dürften.
Doch wie kann eigentlich ein Chor die Titelrolle verkörpern? 40 Kinder, die gleichzeitig Pinocchio spielen und 20 weitere in der Rolle von Grille und Schlange? Dabei mag der eine oder andere vor allem an Chaos, Lärm und nur durch Glück nicht in den Orchestergraben purzelnde Kinder denken. Aber: die größten Rätsel halten manchmal die größten Wunder bereit, denn auf der Duisburger Bühne gelingt ein absolut packender Theaterzauber, und der Chor der kleinen Hauptdarsteller avanciert in dieser Inszenierung über anderthalb Stunden nicht nur zum leuchtenden Star des Abends, sondern erweist sich musikalisch, schauspielerisch wie tänzerisch gleich auf mehreren Ebenen als echtes Profi-Ensemble.
In den ausgefeilten Choreografien von Lin Verleger bewegen sich die jungen Künstler als Musicalformation oder in einer Art modernen Ausdruckstanzes wie eine Figur, ein Organismus, ohne dabei je an individuellem Ausdruck einzubüßen – im Gegenteil: auf den Gesichtern und in den Körpern der jungen Künstler zwischen 7 und 17 Jahren spiegeln sich das Geschehen, die inneren Regungen, alle Gefühle und Gedanken absolut klar und lebendig und erscheinen dabei ganz und gar nicht uniformiert. Umfangreiche Dialogpassagen werden von den Kindern und Jugendlichen zusammen wie in einem griechischen Chor gesprochen. Wer gibt den Takt an, wer den Einsatz? Man weiß es nicht; sie spielen und sprechen offenbar mit der unseren Verstand übersteigenden, nicht restlos zu begreifenden Intelligenz eines Bienen- oder Fischschwarms. Etwas Größeres scheint hier jedenfalls am Werk zu sein.
Und natürlich wird gesungen! In der Einstudierung von Sabina López Miguez und Justine Wanat präsentieren sich der Kinderchor am Rhein und die Akademie für Chor und Musiktheater überaus klangschön und intonationssicher, mit frischen, strahlenden, obertonreichen Stimmen. Aber darüber wundert man sich dann schon gar nicht mehr, denn es scheint für diese jungen Sänger einfach das Natürlichste der Welt zu sein. Und wenn gegen Ende des Stückes, in jenem Moment, wo Pinocchio hilflos auf dem Meer treibt und inmitten der Wogen und beim Herannahen des Wals eine wirklich existenzielle Krise voller Todesangst erlebt – wie da dieser junge Chor die ganze wahre Dramatik des Moments mit sängerischem und schauspielerischem Ausdruck erfüllt, begreifbar und erfahrbar macht – das ist nicht nur mehr als erstaunlich, sondern auch absolut atemberaubend und ergreifend. Wenn ich einen Award zu vergeben hätte, dann wären diese Kinder bereits jetzt der Opernchor des Jahres!

Und in diesem Zusammenhang sei auch noch einmal explizit die Regiearbeit von Marthe Meinhold und Marius Schötz erwähnt, ohne die eine solchermaßen differenzierte künstlerische Leistung wohl kaum hätte verwirklicht werden können – und man vermag als Zuschauer nur zu erahnen, wie viel Geduld, Zeit, Hinwendung und Herzblut in dieses Projekt eingeflossen sein mögen, um es auf so schöne Weise auf die Bühne bringen zu können.
Die beteiligten Solisten aus dem Opernensemble der Rheinoper sind keineswegs Nebendarsteller, sondern können sich in ihren unterschiedlichen Rollen aufs Beste präsentieren: Bassbariton Torben Jürgens verkörpert den Holzschnitzer Geppetto und brilliert außerdem als schrille und ungerechte Lehrerin, die Pinocchio mit ihren ebenso sinnlosen wie unlösbaren Aufgabenstellungen in die Verzweiflung treibt. Das Schulkind Carlo und die mysteriöse blaue Fee werden von Constantin Moței mit wohlklingendem und füllig-samtigem Bariton ausgestattet.
Charlotte Langner singt und spielt herrlich lustvoll und vollkommen überzeugend gleich zwei echte Schlitzohren im Stück – den intriganten Fuchs und die ebenso attraktive wie hinterhältige Besitzerin des Spielzeuglandes. Dabei vermag sie ihre sehr schöne Sopranstimme wirkungsvoll zum Einsatz zu bringen. Henry Ross komplettiert als Kater das Betrügerduo mit vielversprechendem Tenor. In der Partie des kleinen Dochts, welcher sich aufgemacht hatte, um das „perfekte Land“ zu erreichen, meistert der junge Sänger selbst exponierte Lagen vollkommen souverän. Die angenehme und klare Erzählstimme von Noëlle Haeseling führt unaufdringlich und ausdrucksvoll durch die Handlung und sorgt für nahtlose „Verfugung“ der einzelnen Szenen und Schauplätze.
Florian Kiehl, der neben dem Bühnenbild auch für Kostüme und Videoprojektionen verantwortlich zeichnet, schuf eine fantasievoll-erzählkräftige Szenerie.
Getreu dem historischen Vorbild tragen die 40 Pinocchios spitzen Hut, rotes Wams mit weißem Kragen und kurze grüne Hosen. Hier wird das Rad nicht neu erfunden, aber alles so schön, liebevoll und klar verständlich gemacht, wie es für die Geschichte eben notwendig ist. Die Schule ist eine Schule, das Bett ein Riesen-Bett (in dem fast alle Pinocchios Platz finden), die Kutsche eine Kutsche…
Zeitweise wird der Blick auf die Brandmauern des Theaters freigegeben – jene Perspektive, die wie kaum eine andere Weite, Unendlichkeit und räumliches Verlorensein zu vermitteln vermag und damit das Sich-Zurechtfinden des kleinen Pinocchios in einer großen, noch unbekannten und zuweilen unwirtlichen Welt wirkungsvoll veranschaulicht. Eine singende blaue Fee schwebt aus dem Schnürboden herab, Videoprojektionen skizzieren den jeweiligen Ort des Geschehens: die Silhouette von Venedig, eine Graslandschaft, in der die Grille erscheint, hohe Berge, inmitten derer Pinocchio der Schlange begegnet, ein symbolträchtig loderndes Höllenfeuer im nur scheinbar perfekten und sich rasch als bedrohliche Chimäre entpuppenden Spielzeugland, das Meer, auf dem Pinocchio hilflos treibt, wo er schließlich vom Wal verschluckt wird und in dessen Innerem er endlich seinem Vater Geppetto wiederbegegnet.
Marius Schötz hat für seine erste Oper eine eingängige, dennoch nie banale Tonsprache gefunden. Unterstützt durch die raffinierte Orchestrierung von Steven Tanoto erklingen bewusst platzierte Anspielungen – sowohl Engelbert Humperdinck als auch ein Hauch von Puccini lassen für einige Takte freundlich grüßen; in den Auftritten von Fuchs und Kater überfluten mit fesselnder Magie und in gekonnter Verneigung vor Brecht/Weill scheinbar alle sieben Todsünden zugleich die Bühne. Im musikalisch etwas einfacher gehaltenen, aber keineswegs simplen Part des Kinderchors finden sich sogar einige ohrwurmverdächtige Hits, während in den Interludien teils sphärische Klänge oder filmmusikalisch die Situation untermalende akustische Wogen, wie auch beat- oder technohaft anmutende Rhythmen den jeweils passenden Tonfall in der zu erzählende Geschichte treffen.
Patrick Francis Chestnut am Pult der farbenprächtig aufspielenden Duisburger Philharmoniker leitet die Aufführung mit der gebotenen Verve und behält das musikalische Geschehen zwischen Graben und Bühne mit wachsamer Präsenz in sicheren und erfahrenen Händen.
Und wie steht es denn nun eigentlich um die Lügengeschichte und die sprichwörtlich gewordene lange Nase? Tatsächlich lügt Pinocchio im ganzen Stück nur ein einziges Mal – als nämlich unversehens eine wertvolle Vase zu Bruch geht und er danach verzweifelt (und sehr lustig!) um diverse Ausreden ringt.
Aber letztlich ist dieser Moment nur eine einzige Station in der umfassenden und sehr persönlichen Odyssee dieses „Holzkindes“, das beharrlich seinen Platz im Leben und den richtigen Weg sucht. Eines Kindes, das im Laufe seiner Abenteuer auch falschen Versprechungen auf den Leim geht und Betrügern zum Opfer fällt, das einen Freund entdeckt, Mitgefühl entwickelt und nach und nach lernt, in einer Welt, die nicht immer gut ist, die aus vielerlei Unsicherheiten besteht und in der sich ein schier unendliches Meer aus Optionen und Lebensmöglichkeiten offenbart… – inmitten all dessen die eigene, innere Wahrheit zu finden und zudem abseits von Schablonen und Ideologien zu ergründen, wie das gehen mag: Ein gutes Leben zu führen und ein guter Mensch zu sein. Und so schreibt Pinocchio auf seinem Weg seine ganz persönliche Geschichte vom Lernen, Erwachsenwerden und – letztlich – Menschwerden: „Vielleicht lerne ich hier gerade was. Und zwar, wie ich meinen Kopf einsetze und wie ich mein Herz einsetze. Und zum Schluss weiß ich nur, dass ich das kann.“

Die Zuschauerkinder im vollbesetzten Duisburger Theater folgten der abenteuerlich-spannenden Suche ihres Altersgenossen auf der Bühne jedenfalls mit höchster Spannung und in bemerkenswerter pausenloser Konzentration. Ein Besuch dieser Aufführung sei allen Menschenkindern von Herzen unbedingt empfohlen!
Sibylle Eichhorn, 18. Mai 2025
Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERMAGAZIN
Pinocchio
Kinderoper von Marius Schötz
Auftragswerk der DOR
Deutsche Oper am Rhein, Duisburg
Besuchte Vorstellung: 9. Mai 2025
Premiere: 27. April 2025
Choreografien von Lin Verleger
Regie: Marius Schötz / Marthe Meinhold
Dirigat: Patrick Francis Chestnut
Duisburger Philharmoniker
„Pinocchio“ ist in dieser Spielzeit noch am 29.05. / 01.06. und 02.06.2025 im Theater Duisburg zu erleben. Ab dem 30. Oktober 2025 wird das Stück im Opernhaus Düsseldorf aufgeführt.