Bereits am 19. Januar 2013 am MiR Gelsenkirchen uraufgeführt und in der Spielzeit 2019/20 am Badischen Staatstheater Karlsruhe zu sehen gewesen, ist das preisgekrönte Handlungsballett Ruß nun auch in Duisburg und Düsseldorf zu erleben. Bridget Breiner, seit dieser Spielzeit neue Chefchoreografin des Balletts am Rhein, stellt sich damit eindrucksvoll dem hiesigen Publikum vor. Gekonnt überträgt sie das Märchen vom Aschenputtel in das Bergbaumilieu der 1940er und 1950er Jahre und stellt Livia in den Mittelpunkt, eine der beiden Stiefschwestern, die sehr unter ihrer Mutter leidet. Nach dem Tod von Livias und Sophias Vater droht der soziale Abstieg und die Mutter macht sich mit den beiden Kindern auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. In dem Vorarbeiter eines Kohlewerks findet sie schließlich den erhofften Ernährer der Familie. Auch er bringt eine Tochter aus erster Ehe mit in die neue Familie, die unbekümmerte und lebenslustige Clara. Livia ist eifersüchtig und wünscht sich, auch so sein zu können wie Clara, die von allen geliebt wird. Selbst ihre eigene Schwester Sophia scheint ihre Stiefschwester mehr zu mögen als sie. Gleichzeitig lässt die Stiefmutter ihren Ärger darüber an Livia aus, für die sie ehrgeizige Pläne hat. Als der Sohn des örtlichen Industriebarons, J. R. Prince, die Familie zu einem Ball einlädt, scheinen diese Pläne in Erfüllung zu gehen. Doch frei nach der bekannten Vorlage taucht plötzlich Clara auf dem Ball auf, in diesem Fall, um ihrem Vater beizustehen. Die Natürlichkeit des rußverschmierten Mädchens fasziniert auch J. R. Prince, der Clara nach dem Ball mit Hilfe eines zurückgelassenen Arbeiterschuhs wiederfindet. Aber auch Livia kann sich am Ende von ihrer Mutter befreien und findet in dem Arbeiter Mitch einen Menschen, mit dem auch sie eine glückliche Zukunft haben könnte, die aber im Detail letztlich offen bleibt. Wichtiger ist in diesem Moment, dass Livia zum ersten Mal nach dem Tod ihres Vaters wieder wenigstens ein bisschen lachen kann.
Bridget Breiner ist es gelungen, diese Geschichte in beeindruckende Bilder und Tänze zu verpacken und zu einem Gesamtkunstwerk zu verweben. Dafür wurde sie Ende 2013 mit dem Theaterpreis Faust für die beste Choreographie in der Sparte Tanz ausgezeichnet, denn die originelle und zugleich etwas überraschende Erzählweise begeisterte bereits 2013 Publikum und Kritiker gleichermaßen. Dazu passt das Bühnenbild von Jürgen Franz Kirner, der auch für die Kostüme dieser Produktion verantwortlich ist. Im ersten Akt hängen gefüllte Waschkauen vom Schnürboden herab, wie in einer alten Bergmannskaue. Im zweiten Akt dienen die Körbe dann als eine Art Kronleuchter auf dem Ball des Industriebarons. Außerdem gibt es drei Rollwände, die den Raum immer wieder neu öffnen und schließen. Gelungen ist hier besonders der Anfang, der in Form eines Fotoalbums die Vorgeschichte des Märchens erzählt. Während diese Wände auf der einen Seite als Holzwände gestaltet sind, bildet die Rückseite den passenden Rahmen für den Ball: Schwarze Kohlewände, durchsetzt mit glitzerndem Erz, symbolisieren quasi den Reichtum, der durch den Kohleabbau in dieser Familie entstanden ist.
Musikalisch mischt Breiner Auszüge aus dem klassischen Ballett Aschenbrödel von Johann Strauß (Sohn) aus dem Jahr 1899 mit amerikanischen Arbeiterliedern u. a. von Uncle Dave Macon, Woody Guthrie, Sarah Ogan Gunning und Hazel Dickens. Während die Ballettmusik meist den Tanz begleitet, sorgen diese Musikeinspielungen immer wieder für die passende Bergarbeiter-Atmosphäre. Musikalische Höhepunkte des Abends sind jedoch die live vorgetragenen Stücke von Marko Kassl auf dem Akkordeon, mit denen er es immer wieder schafft, die unterschiedlichsten Emotionen musikalisch passend zu untermalen. Wunderbar seine eigens für Akkordeon arrangierte Version von Strauss‘ Aschenbrödel.
Nami Ito gab in der besuchten Vorstellung eine warmherzige, verspielte und leichtfüßige Clara, die vor allem im Zusammenspiel mit ihrem Vater (Kauan Soares) auf ganzer Linie überzeugte. Meist barfuß tanzt sie leichtfüßig und mit vielen Sprüngen über die Bühne. Im Kontrast dazu der Spitzentanz der Stiefmutter, elegant und rollenbedingt hartherzig dargestellt von Simone Messmer. Sehr schön hierbei auch, wie sie ihre Kinder Livia und Sophia unter ihre strenge Aufsicht nimmt und beide immer wieder bildlich hinter sich herzieht. Ako Sago verkörpert die junge Sophia mit starken Anklängen an Clara, während es Chiara Scarrone als Livia ist, die besonders unter ihrer Mutter leidet und die Befreiung aus deren fester Hand überzeugend auf die Bühne bringt. In den beiden weiteren männlichen Solopartien des Abends wissen Lucas Erni als J. R. Prinz und Eric White als Arbeiter Mitch ebenfalls zu gefallen. Als Minenarbeiter und in der großen Ballszene sind weitere 15 Ensemblemitglieder in die Produktion eingebunden.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Verbindung des historischen Märchens Aschenputtel mit den Bergbautraditionen sowohl im Ruhrgebiet als auch im amerikanischen Ohio, der Heimat von Bridget Breiner, sehr harmonisch ist. Das Duisburger Publikum applaudierte nach rund 90 Minuten Spielzeit (zuzüglich einer Pause) laut und lang anhaltend. Die letzte Vorstellung am 29. Dezember 2024 im Theater Duisburg ist wie die besuchte bereits ausverkauft, weitere Vorstellungen sind ab Mai 2025 im Düsseldorfer Opernhaus im Spielplan angesetzt.
Markus Lamers, 23. Dezember 2024
Ruß – Eine Geschichte von Aschenputtel
Handlungsballet von Bridget Breiner
Ballett am Rhein – Theater Duisburg
Premiere: 6. Dezember 2024
besuchte Vorstellung: 22. Dezember 2024
Choreographie: Bridget Breiner
Akkordeon: Marko Kassl
Weitere Aufführungen in Düsseldorf: 9. Mai (P), 11. Mai, 14. Mai, 16. Mai, 17. Mai, 21. Mai, 24. Mai, 28. Mai, 19. Juni