Berlin: „Antikrist“

Rued Langgaard

Premiere am 30. Januar 2022

Schwieriges Werk in brillanter Umsetzung

Um fast zwei Jahre verschoben werden musste die Premiere von Rued Langgaards Oper Antikrist, aber das Warten darauf hat sich gelohnt, sowohl wegen des Stücks selbst als auch wegen der Art und Weise seiner Realisierung an der Deutschen Oper Berlin. Der Antichrist, ein von Satan geschaffenes Wesen, das die Menschheit zu allen möglichen Lastern und Sünden verführen soll, ehe diese in ewiger Verdammnis zugrunde geht, dessen Wirken aber auch von Jesus Christus Einhalt geboten wird, ehe das Letzte Gericht beginnt, ist an vielen Stellen des Neuen Testaments erwähnt, so in der Offenbarung und den Briefen des Johannes, als religiöses Thema für die seit eh und je eher heidnische Stadt Berlin allerdings eher weniger interessant, so wie der dänische Komponist, frommer Orgelspieler und musikalisch auf den Spuren Wagners und Strauss‘ wandelnd, aber auch Ligeti interessierend, ein bisher fast völlig Unbekannter war.

Immer wieder und unverdrossen hatte Langgaard seine Oper, in den Jahren 1921 bis 1924 entstanden und 1926 bis 1930 umgearbeitet, der Kopenhagener Oper und dem dänischen Rundfunk angeboten, lediglich das 5. und 6. Bild und der Schluss wurden 1940 im Rundfunk aufgeführt, 1980 entstand eine Aufnahme unter Michael Schonwandt, 1999 gab es die szenische Uraufführung am Tiroler Landestheater Innsbruck, auch in Mainz war das Stück zu erleben und nun mit zwei Jahren Verspätung die Berliner Erstaufführung an der Deutschen Oper in deutscher Übersetzung. Sah allerdings der Komponist, der sein eigener Librettist war und sich von Benzons „Antikrist“ hatte inspirieren lassen, in den Grausamkeiten und Ausschweifungen von Krieg und Nachkriegszeit das hässliche Antlitz des Antichrist, übte wohl auch Kritik an der eigenen Kirche, so meint Regisseur Ersan Mondtag, bürgerlich Ersan Aygün, nach Aussage im Programmheft das Erstarken des Faschismus, Klimagefährdung, Spaltung der Gesellschaft als Kräfte des Bösen zu entlarven. Sogar Gott bekommt sein Fett weg, indem ihm unterstellt wird, er habe das Böse nur deshalb in die Welt gerufen, um Eindruck mit dem Besiegen desselben zu machen. Dazu passt nun gar nicht, dass er Gott als Frau, da mit Vulva und nicht mit Penis versehen, auf die Bühne stellt, zwar nicht behindert, schwarz oder divers, aber immerhin doch weiblich und damit nicht vollkommen verwerflich. Dafür ist die große Hure mit einem männlichen Geschlechtsteil ausgestattet, das ihr allerdings abgerissen wird, und der leibhaftige Gott ist dann so beschaffen, wie ein Mann beschaffen sein muss. Wie so oft ist auch bei dieser Produktion die Realisierung auf der Bühne weniger radikal als das Programmheft – und das ist auch gut so, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass der Regisseur meint, er entscheide sich „meistens für einen Entwurf, der in einer gewissen Diskrepanz zum Inhalt steht“. Vieles bleibt allerdings rätselhaft, was auch daran liegen mag, dass der Komponist in der zweiten, der in Berlin aufgeführten Fassung auf jegliche Handlung verzichtet.

Aktualisierung nun trifft auf die Optik des Auch-Bühnen-und-Kostümbildners gar nicht zu, denn die erinnert stark an die Bilder von Ernst Ludwig Kirchner oder Christopher Nolans Film „Inception“ und scheint insofern der Entstehungszeit des Werks zu entsprechen. Wie beim Ring-Zeittunnel wird fast die gesamte Tiefe der Bühne genutzt, im Hintergrund kann es je nach Stimmung feurig rot, dunkel oder neblig heraufwallen. Es spricht für die Musik Landgaards, dass sie sich gegenüber der bildmächtigen, geradezu überwältigenden Szene nicht nur behaupten kann, sondern dass die Opulenz des Optischen die des Akustischen noch zu verstärken scheint. Allerdings scheint im Orchestergraben, wo Stephan Zilias seines Amtes waltet, Lautstärke auch um ihrer selbst willen erzeugt zu werden, ist dem Komponisten anzulasten, dass Melodienbögen in endloser Wiederholung und Steigerung sich im Unendlichen zu verlieren scheinen. Dem Orchester der Deutschen Oper ist übrigens Langgaard kein ganz Unbekannter, denn es führte unter Donald Runnicles, inzwischen Sir Donald, bereits 2016 beim Berliner Musikfest seine „Sphärenmusik“ auf.

Über weite Strecken hinweg wird in dieser „Kirchen-Oper“ nicht gesungen, so dass es eine gute Idee ist, über die vollen 90 Minuten hinweg das Ballett einzusetzen (Choreographie Rob Fordeyn), das ausdrucksstark und unermüdlich das Geschehen kommentiert, ja eigentlich erst Geschehen ermöglicht. Viel Phantasie wurde auf die Kostüme verwandt, bei denen Annika Lu Hermann mitwirkte und für Drastik und Anschaulichkeit sorgte, den Tänzern ihre Kostüme auf den Leib gemalt zu haben scheint.

Obwohl es Coronas wegen in den letzten Wochen viele Absagen von Vorstellungen geben hatte, musste man an diesem Abend nur eine Umbesetzung vornehmen. Anstelle von Clemens Bieber spielte Miguel Collasdo Sanchez den Mund, der große Worte spricht, während Thomas Blondelle mit heldisch gewordenem Tenor von der Seite her sang. Als Luzifer konnte Thomas Lehman, in der letzten Zeit mit Verdi-Lorbeeren gekrönt, seinen kraftvollen Bariton einsetzen und war auch Eine Stimme. Warme, weiche Mezzofarben verlieh Irene Roberts der Rätselstimmung, Valeriia Savinskaia eiferte ihr als Echo der Rätselstimmung darin nach. Vollmundig verkörperte Flurina Stucki Die große Hure, akustisch nicht ausufernd wie deren Körperfülle, aber von beachtlicher vokaler Statur. Jonas Grundner-Culemann war Gottes Stimme, AJ Glueckert setzt einen schneidigen Tenor für das Tier in Scharlach ein, Die Lüge wird von Andrew Dickinson, einem echten Tenorbuffo, gesungen und köstlich gespielt, Der Hass von Jordan Shanahan mit markigem Bariton verkörpert.

Der Abend in der Deutschen Oper wurde zum umjubelten, unwidersprochenen Erfolg für Stück und Ensemble, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Werk durch seinen kruden Text, seine oft doch recht epigonenhaft klingende, wenn auch effektvolle Musik und seine Thematik befremdet. Kein Zweifel jedoch besteht daran, dass es sich lohnt, es kennen zu lernen.

Ingrid Wanja / 30. Januar 2022

© Fotos: Thomas Aurin