Berlin: „Tosca“, Giacomo Puccini

Wie kann es sein, dass die 409. Vorstellung einer Tosca, deren Premiere im April 1969 stattfand, seit langer Zeit ausverkauft ist, eine einzelne Pressekarte nur mit einiger Mühe noch auffindbar ist, während eine noch ganz frische Oceane, eine Salome, ein Don Giovanni oder ein Fidelio, der gerade erst Premiere feiern durfte, schlecht bis ganz schlecht verkauft sind? Wobei immerhin Klaus Florian Voigt als neuer Florestan sicherlich noch das Schlimmste verhindert und natürlich an der Abendkasse sich noch vieles ändern kann.

(c) Bettina Stöß

Liegt es an der frühen Anfangszeit bereits um 17 Uhr, so dass man nächtliches U-Bahnfahren, zum Beispiel mit der übel beleumundeten U 8, vermeiden kann? Nein, denn auch die am späten Abend stattfindende Tosca-Vorstellung ist bereits fast ausverkauft. Liegt es am Sonntagstermin, was eigentlich nicht naheliegt, denn danach kann man nicht ausschlafen, und auch am Donnerstag müssen sicherlich viele Opernbesucher der zweiten Tosca früh aufstehen. Ist die Sängerbesetzung der Grund? Mit Sondra Radvanosky, Vittorio Grigolo und Roman Burdenko ist eine sehr gute, aber keine sensationelle zusammengekommen. Schließlich sangen in dieser Produktion die Drei Tenöre (natürlich nicht gleichzeitig) und viele andere wie Aragall oder Shikoff, stießen Montserrat Caballé, Raina Kabaivanska oder Gwyneth Jones dem bösen Scarpia den Dolch in die Brust, die Ingvar Wixell oder Ruggero Raimondi gehörte. Ist diese Tosca-Produktion etwa so begehrt, weil man mit dem Entstehungsdatum und dem Namen Boleslav Barlog das sichere Glücksgefühl verbindet, vor Naziuniformen, Schiesser Feinripp und Kofferbergen und allen anderen Ingredienzien moderner Regie sicher zu sein? Da könnte das Ergebnis einer Publikumsbefragung interessant sein. Allerdings waren auch die späten Sechziger nicht frei von Querelen um die Regie, wenn der Spielleiter Barlog vom Cavaradossi forderte, an das Versprechen Scarpias zu glauben, trotz des „la sua prima grazia è questa“, und der Tenor sich mit seiner Auffassung, wenn auch erst nach der Premiere, mit einem unendlich wehmütigen Gruß an Tosca durchsetzte. Die Premieren-Tosca Pilar Lorengar hatte auch ihre Extrawünsche, wenn sie es ablehnte, die Brust des toten Scarpia mit dem Kreuz zu zieren, Leuchter neben dem cadavere aufzustellen.   

(c) Bettina Stöß

Tosca ist berüchtigt für Unvorhergesehenes auf der Bühne wie das Fehlen des Schießkommandos in Wien, weil dieses gebannt vor dem Fernseher saß. Auch die Berliner Tosca blieb nicht von Unfällen frei wie dem zu frühen Absprung Pilar Lorengars von der Engelsburg, der sie dazu zwang, „ O Scarpia, davanti a Dio“ vom Grunde des Tibers her zu singen und den eigentlich toten Cavaradossi Franco Tagliavini nur mühsam einen Lachanfall unterdrücken ließ. Beide hatten unter Lorin Maazel die Premiere gesungen und blieben bis in die Mitte der Achtziger gemeinsam mit Ingvar Wixell und George Fortune die häufigste Besetzung des Werks an der Deutschen Oper.

In den Neunzigern hatte sich Götz Friedrich der Produktion angenommen und einiges geändert, so ein „Trionfans“ das nicht mehr ins Publikum, sondern nach hinten in Richtung Petersdom gesungen wurde, nicht zur Freude jedes Sängers. Da kann man immer gespannt sein, wie schnell das liebende Paar sich wieder dem Publikum und damit einer besseren Vernehmbarkeit zuwendet. 

Die Bühnenbilder von Filippo Sanjust zeigen sich auch ein gutes halbes Jahrhundert nach der Premiere noch als gut erhalten, auch das des zweiten Akts, das allerdings immer schon einen recht schäbigen Eindruck machte. Wen es interessiert, der kann in Rom überprüfen, inwiefern Sant‘ Andrea delle Valle, Palazzo Farnese, in dem allerdings jetzt die französische Botschaft residiert, und die Plattform auf der Engelsburg dem Bühnenbild entsprechen. Letztere allerdings ist für einen Besuch im Hochsommer, wenn es hier extrem heiß und grelllichtig ist, nicht zu empfehlen. 

(c) Bettina Stöß

Und wie war nun die 409. Aufführung seit der Premiere am 13. April 1969? Sie wurde vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen dank einer noch immer für den dritten Akt wunderschönen Lichtregie, die das Erwachen der Stadt mit einem sich allmählich erhellenden Himmel sichtbar macht, mit einem zwar etwa rau beginnenden, aber zunehmend atmosphärisch dichter werdenden Vorspiel zum letzten Aufzug, mit einem gut disponierten Orchester unter dem Einspringer Valerio Galli, der auch den Sängern ein einfühlsamer Begleiter war. Diese ließen erst einmal staunen ob der zahlreichen guten Bassstimmen im Ensemble, einem schlankstimmigen, aber basspotenten Angelotti, den Dean Murphy sang und weniger übertrieben hinfällig als viele seiner Kollegen spielte. Angsteinflößend durch körperliche Präsenz und vokale Prachtentfaltung selbst in einer so kleinen Partie war Patrick Guetti als Sciarrone, selbst der Schließer konnte, so kultiviert gesungen wie von Ossian Huskinson, auf sich aufmerksam machen. Ein zu zappeliger Mesner war Padraic Rowan mit einwandfreier vokaler Leistung. Ein feines Stimmchen ließ Nathalie Zint aus dem Kinderchor mit der Canzone des Hirtenknaben vernehmen.

Viel Licht und einigen Schatten gab es bei den drei Protagonisten. Roman Burdenko war ein brutaler Scarpia, dem in Spiel und Gesang Süffiges und Aristokratisches fehlte, der aber einen soliden Brunnenvergifter- und Bösewichtsbariton gewinnbringend einsetzen konnte. In einer der edlen Verdi-Vater-Partien allerdings möchte man ihn nicht unbedingt hören. Vittorio Grigolo war ein attraktiver, jungenhafter Cavaradossi, weniger Revolutionär und Freigeist und auch mal zum Kreuzesschlagen aus der Rolle fallend. Mehr Strappa-applausi-Versuche als er mit „E lucevan le stelle“ kann man nicht einsetzen, mit kaum hörbaren „belle forme“ und einem umso krachenderen „tanto la vita“. In allen drei Akten ließ er immer wieder kraftvoll begonnene Phrasen schließlich dem Ende zu quasi lautlos versickern. Er hat eine schöne Stimme, die es nicht nötig hat, so strapaziert zu werden, die ihre Wirkung auch weniger die Extreme auskostend nicht verfehlen würde. Aber was soll’s, auch wenn mit Macken behaftet, ist man immer glücklich über eine „echte“ italienische Tenorstimme. Mit ihren „Mario“-Rufen zu Beginn schockierte Sondra Radvanovsky erst einmal, denn die Stimme klang hohl, wurde aber zunehmend runder und wärmer, die Diktion allerdings blieb bis zum Schluss verwaschen. „Vissi d’Arte“ mochte sie nicht am Bühnenrand singen, sondern arbeitete sich im Verlauf der Arie bis an die Mitte der Bühnenrampe vor. Jörg Schörner wirkte beinahe zu gemütlich für den fiesen Spoletta. Chor (Thomas Richter) und Kinderchor (Christian Lindhorst) gestalteten ein machtvolles Te Deum.     

Ingrid Wanja, 9. Januar 2023  


Giacomo Puccini: Tosca

Deutsche Oper Berlin

Premiere: 19. April 1969 / besuchte Vorstellung: 8. Januar 2023

Inszenierung: Boleslav Barlog

Musikalische Leitung: Valerio Galli

Orchester der Deutschen Oper Berlin