Hamburg: Messiaen, Murail, Ravel, Debussy

Olivier Messiaen
LES OFFRANDES OUBLIÉES, Sinfonische Meditation

Tristan Murail
LE DÉSENCHANTEMANT DU MONDE, Sinfonisches Konzert für Klavier und Orchester

Maurice Ravel
UNE BARQUE SUR L’OCÉAN

Claude Debussy
LA MER, Drei sinfonische Skizzen

Der Dirigent Ingo Metzmacher hatte 2005 ein überaus lesenswertes Buch mit dem Titel KEINE ANGST VOR NEUEN TÖNEN publiziert. Immer wieder versucht er mit den von ihm verantworteten Konzertprogrammen und Musiktheateraufführungen sein Publikum mit auf Entdeckungsreisen in musikalisch weniger bekannte, näher an unserer Gegenwart angesiedelte Gefilde mitzunehmen. Gut so! Auch das Programm, welches er gestern Abend in der Elphilharmonie zusammen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester präsentierte, bot die Gelegenheit, neue Töne zu entdecken. Alle vier an diesem Abend präsentierten Werke zeigten das Bemühen der Komponisten, dem Klang nachzuhorchen. Der Bogen reichte dabei von Debussy und Ravel über Messiaen zum 1947 geborenen Tristan Murail, welcher als Vertreter der "Spektralisten" gilt, also jener Musiker, die ein ganz explizit auf die Ausnutzung des Klangspektrums eines oder mehrerer Klänge beruhendes Kompositionsverfahren anwenden, ohne sich der mathematischen, kopflastigen Seriellität (z.B. der Darmstädter Schule) zu unterwerfen. Das Concerto symphonique pour piano et orchestre von Tristan Murail stand denn auch im Zentrum des Abends. Für den Solopart konnte man keinen geringeren als Pierre-Laurant Aimard gewinnen, der bereits die Uraufführung im Jahr 2012 gespielt hatte. (Kleine Frage zwischendurch: Gibt es überhaupt einen anderen Pianisten, der sich an dieses Stück wagt?) Die Leistung des Pianisten jedenfalls ist zutiefst beeindruckend: Beinahe während 30 Minuten ist er unermüdlich im Einsatz, spielt mit und gegen ein riesig besetztes Orchester an. Das ist nicht leicht zugängliche Musik, weit entfernt davon. Sie ist laut, wirkt unstrukturiert, und ja, beim ersten Anhören eigentlich recht eintönig, durch das permanent schrill gleißende Blech geradezu einschläfernd. Erst ganz am Ende, wenn es leiser wird, bekommt man "spektrale" Aspekte mit. Da endlich kann man dem Klang nachhorchen. Aber um das Stück ins Herz zu schließen, ist es leider zu spät. "Le désenchantement du monde" nannte Murail sein Werk. Zu Recht, man war nicht bezaubert, eher desillusioniert. Ich habe wahrlich keine Angst vor neuen Tönen, bin gerade kürzlich z.B. zu einem Anhänger der Musik von John Adams geworden. Murail muss man wohl öfter begegnen, um ihn zu verstehen oder gar ins Herz zu schließen. Allein, der Gelegenheiten wird’s nicht allzu viele geben. Musik muss faszinieren, packen, bewegen, berühren, rhythmisch oder melodisch fesseln. Diese Elemente fehlten mir persönlich bei dieser ersten Begegnung mit der Spektralmusik von Tristan Murail.

Ganz anders war das beim ersten Musikstück des Konzerts, Olivier Messiaens sehr persönlich ausgestaltetes orchestrales Erstlingswerk LES OFFRANDES OUBLIÉES. Das sind klanglich fantastisch austarierte, getragene, erfüllte Klänge, in religiöse Sphären abhebend, im zweiten Teil (Sünde) mit Brachialkraft aufwühlend, im dritten dann wieder mit fast körperloser Reinheit die Vergebung empfangend. Wunderbar rein intonierten die Violinen des Orchester diese lichten Passagen. Dieses Werk habe ich heute auch zum ersten Mal gehört – Liebe auf das erste Anhören. Geht doch!

Nach der Pause dann die bekannten, lautmalerisch-impressionistischen Werke von Ravel und Debussy über ihre Eindrücke des Wirkens von Wellen, Sturm und Wind auf dem Meer. Während sich Ravel bei seinem Stück UNE BARQUE SUR L’OCÉAN kurz und prägnant hält, braucht Debussy bei LA MER viel mehr Zeit, um die Stimmungen differenziert auszuloten. Das gibt mehr Raum zur Erforschung und Entfaltung des Klangs aus der Stille heraus (womit wir wieder bei den Spektralisten – oder eben ihren Vorgängern angekommen wären). Metzmacher und das mit herausragenden Leistungen an allen Pulten aufwartende NDR Elbphilharmonie Orchester interpretierten diese gewaltige und gewichtige Musik mit grandioser Emphase.

Klasse!

Kaspar Sannemann, 26.3.2022