Sehenswert deshalb, weil dem Inszenierungsteam rund um Regisseurin Slavá Daubnerová eine kluge, spannende und sinnfällige Lesart der nicht einfach zu inszenierenden Oper gelungen ist. Die Story mit ihren wechselnden Schauplätzen und den zeitlichen Sprüngen kann nicht einfach dekorativ erzählt werden, denn dann verliert sie an Glaubwürdigkeit und Bedeutung. Slavá Daubnerová sieht sie aus der Perspektive Leonoras, einer Frau, zerrissen zwischen den Fronten des Krieges, zerrissen von familiären Konflikten und Übergriffen, zerrissen vom Schicksal, das ihr das persönliche Glücklichsein nicht gönnt. Die Regisseurin zeigt in der Figur der Preziosilla einen Gegenentwurf zum Leben Leonoras – es könnte auch ein Alter Ego sein, oder eine Schicksalsgöttin. Denn bereits im Vorspiel taucht Preziosilla auf, sie ist es, die zusammen mit Leonora und einer weiteren stummen Frauenfigur die Fäden des Schicksals spinnt (es wird im Programmheft von den drei griechischen Schicksalsgöttinnen, den Moiren – bei den Römern Parzen und in der nordischen Mythologie Nornen genannt – berichtet), sie überreicht darin Leonora den fatalen Revolver, mit welchem sie ihren Vater erschießt (als inzestuöses Missbrauchsopfer). Ganz am leisen verklingenden Ende der Oper taucht der Schicksalsfaden wieder in der Video- Projektion auf dem Gazevorhang auf. Überhaupt sind die genialen Videoprojektionen von Andreas Deinert ein bestimmendes und dominierendes Element der Produktion. Nur schon die ganzen Schlachtenszenen werden mit faszinierender Abstraktion gestaltet, wo sich einzelne Soldaten durch Verkleinerung rasant vervielfachen und so das Absurde und Groteske eines jeglichen Krieges entblößen.
Ein weiteres, dominierende Element der Inszenierung stellt die übergroße Replik der berühmten Statue “Mutter Heimat ruft” dar. Das Original (85 Meter hoch!) steht in Wolgograd und soll an die Schlacht von Stalingrad erinnern. Allerdings wird diese Statue dann im dritten Akt zerstört, der Oberkörper der “Mutter” ist symbolträchtig heruntergefallen. Das fantastische, faszinierend ausgeleuchtete Bühnenbild hat Volker Hintermeier entworfen, die zeitlich nicht konkret verorteten Kostüme stammen von Cedric Mpaka. Es gäbe viel zu berichten vom Detailreichtum dieser träfen Inszenierung, die das bewegende Schicksal einer Frau mit bildgewaltiger Kraft erzählt und welche trotz allen Reichtums an klugen Einfällen nie einem szenischen Overkill anheim fällt. Zerrissen ist auch die Welt, in der sich die drei Protagonisten Leonora, ihr Bruder Don Carlo und ihr Geliebter Don Alvaro bewegen: Durch Kriege zerrissen, welche die Gesellschaft in Arme und Reiche spalten. Die Armen, verwundet und hungernd, darben neben den Reichen, die sich teure Gerichte mit Tellerhauben und Champagner servieren lassen, ein Ekel erregendes Bild, das leider nichts an Aktualität eingebüsst hat. Die Szene im Kloster spielt nicht in einer konkreten katholischen Glaubensgemeinschaft, es handelt sich eher um einen sektenähnlichen Männerbund von Weisen, dem Reich Sarastros aus der Zauberflöte nicht unähnlich. Die Prozession der Mönche geschieht nicht kitschig mit Kerzen, sondern es werden unablässig Bücher umgeschichtet und neu gestapelt. Dazu werfen waagrechte Leuchtröhren, die auf sechs mobilen Bühnenelementen angeordnet sind, gleißendes, weißes Licht in den Saal, ein Licht, von dem Menschen und Musik auf kongeniale Art quasi aufgesogen werden. Und warum erinnerte mich Leonora mit dem kurzgeschorenen Haar und in der Mönchskutte ständig an Ingrid Bergman als Jeanne d’Arc? Die Regisseurin verweist für ihre Inszenierung auf einen anderen Film: Triangle of Sadness … (Den habe ich leider nicht gesehen, kann also über mögliche Bezüge oder Assoziationen nichts anmerken.) Wunderbar passend ist der Abdruck des ergreifenden Gedichts von Erich Mühsam über das Schicksal (und das Hadern mit demselben) im hervorragend gestalteten, informativen Programmheft: “Ich klage an, klage mein Schicksal an, weil es den Vater schuf, der mich zeugte … .” Welch großartiger Text!
Musikalisch ist das alles aus einem Guss: Wolfram-Maria Härtig zeigt von den erst Schicksalsakkorden der Ouvertüre an, wohin die Reise führt: in einem vielschichtigen Kosmos von seelischen Abgründen und traumatisierenden Schicksalsschlägen. Vorwärtsdrängend, mit wuchtig gesetzten Akzenten, fein gesponnenen Linien, transparenter Zartheit in den vielen verinnerlichten, kammermusikalischen Passagen, Vor- und Nachspielen und Arienbegleitungen lässt er die Essener Philharmoniker mit Leuchtkraft brillieren. Astrik Khanamiryan als Leonora gestaltet ihre dankbare Partie mit warmer Grundierung, großem Atem und schöner Rundung des Klangs. Ihre Romanze im ersten Akt und die Preghiera im zweiten sind von engelsgleicher Schönheit. Dazu kommt ihre großartige Bühnenpräsenz, auch im dritten Akt, in welchem sie eigentlich nicht auftreten sollte, geistert sie im Gerüst der gefallenen Statue umher.
Die schwierige Tenorpartie des Alvaro wurde in der von mir besuchten Vorstellung hervorragend von Antonello Palombi gesungen. Sein Tenor verfügt über die notwendige Kraft für die Riesenrolle, vermag aber auch Zerbrechlichkeit und tiefe Verzweiflung auszudrücken. Seinem Gegenspieler Don Carlo di Vargas verleiht Stefano Meo die gebotene archaisch-rächerische Ausdrucksgewalt. Sein kerniger Bariton strömt klangvoll und unangestrengt frei schwingend in den Saal. Almas Svilpa verleiht dem an Sarastro gemahnenden Padre Guardiano seinen prächtig und ausdrucksstark flutenden Bass. Bettina Ranch ist eine fulminante Preziosilla, durchschlagend und agil in ihren kriegerischen, mitreißerischen Eviva la Guerra und Rataplan- Gesängen (die effektvollen Trommelwirbel dazu kommen von Stefan Kellner, der hoch oben auf dem Gerüst rund um die Statue platziert ist). Karel Martin Ludvik gibt mit weiß geschminktem Gesicht und entsprechender Dämonie den hintergründig schimpfenden Fra Melitone. Auch die kleineren Partien des Alcalde (Hyeong Joon Ha), der Curra (Kammersängerin Marie-Helen Joël), des Trabuco (Albrecht Kludszuweit), des Chirurgo (Yanchen Chen) und last but in no way least der Marchese di Calatrava mit dem wunderbaren Bass von Andrei Nicoara sind bestens besetzt. Große, begeisternde Chorklangmagie steuert der Opernchor des Aalto-Theaters (Einstudierung: Klaas-Jan de Groot) bei.
Fazit: Überaus Sehens- und hörenswert ist diese Neuproduktion von Verdis zu Unrecht oftmals belächelter großer Oper am Alto Musiktheater in Essen. Diese Forza übertrifft (zumindest szenisch) die etwas gar dekorative Saisoneröffnung dieser Verdi-Oper an der Scala di Milano vor 10 Tagen und kann musikalisch bestens mithalten, und das zu einem Bruchteil der Eintrittspreise in Italien. Hingehen!
Kaspar Sannemann, 28. Dezember 2024
La forza del Destino
Giuseppe Verdi
Aalto-Theater Essen
19. Dezember 2024
Inszenierung: Slava Daubnerova
Musikalische Leitung: Wolfram-Maria Härtig
Essener Philharmoniker