Martina Franca: „47º Festival della Valle d’Itria“

Palazzo Ducale, Martina Franca 29.7.

GRISELDA

Das heurige Festival in der schönen apulischen Barockstadt ist nach 12 Jahren das letzte von Alberto Triola verantwortete (auf ihn folgt ab 2022 der auch in Wien bekannte Sebastian Schwarz) und stand unter dem Motto „Fiat lux“, was man auf die wiedergewonnene Möglichkeit des Theaterbesuchs ebenso beziehen kann wie auf die szenische Aufführung von Haydns „Schöpfung“ (davon später).

Auch die „Griselda“ von Alessandro Scarlatti mit einem (auch von Bononcini und Vivaldi vertonten) Text von Apostolo Zeno könnte man diesem Motto unterstellen. Die Handlung der vor genau drei Jahrhunderten in Rom uraufgeführten und letzten Oper des aus Palermo gebürtigen, international tätigen und in Neapel verstorbenen Komponisten beruht nämlich auf einer gar nicht witzigen, sondern bösartigen Novelle aus Boccaccios „Decamerone“. Ein sadistischer König hat eine einfache Frau aus dem Volk geheiratet und unterzieht sie nach einiger Zeit allen Arten von Qualen, indem er sie zunächst in ihrem ärmlichen ursprünglichen Gewand verstößt, sie Hunger und Gefahren aussetzt, den gemeinsamen Sohn vorgeblich töten lässt und sie schließlich einem seiner Höflinge zur Frau „schenken“ will. Griselda erträgt dies alles stoisch in unverbrüchlicher Liebe zu ihrem Gatten, und erst angesichts einer Neuverheiratung will sie sich töten, sodass der König ihre Qualen beendet. Der Librettist hat die wenig glaubwürdige Erzählung dahingehend geändert, dass sich der König zu solchem Handeln gezwungen sieht, weil seine Untertanen eine Frau aus dem Volk nicht als Königin akzeptieren. Damit wird das Verhalten des Königs zwar etwas entschärft, ist aber nicht weniger grausam. Dazu gibt es ein junges Paar, dessen weiblicher Teil in Wahrheit des Herrscherpaars von der Mutter tot geglaubte Tochter ist, die der König vorgeblich heiraten will.

Im Programmheft war zu lesen, dass Scarlattis Musik 1721 als teilweise überholt und nicht sehr originell beurteilt wurde. Auch ich habe sie als nicht besonders charakteristisch empfunden, obwohl in guter alter Barockmanier in den Arien alle Arten von Affekten zur Schau gestellt werden. Vielleicht lag das aber auch an dem an sich renommierten Barockspezialisten George Petrou, der das Ensemble La Lira di Orfeo nicht unbedingt zügig dirigierte, man sich allerdings durchaus eines akkuraten Originalklangs erfreuen konnte.

Auf stimmlicher Ebene gab es vorwiegend ausgezeichnete Leistungen, wobei es dem Countertenor Raffaele Pe gelang, die bösartigen Seiten des Königs Gualtiero blendend mit dem Ausdruck seiner Gewissensbisse zu kombinieren und so ein überaus überzeugendes Rollenporträt entstehen ließ. In der Titelrolle stand ihm Carmela Remigio in Ausdruck und stimmlicher Bewältigung nicht nach; es gelang der Künstlerin sogar, dem Publikum ihre unverbrüchliche Liebe zu dem grausamen Gatten verständlich zu machen. Hervorragend war auch die Mezzosopranistin Miriam Albano in der Rolle des Roberto, des in Costanza, die vermeintlich zur Braut des Königs bestimmte Tochter, verliebten jungen Mannes. Stimmliche Beherrschung, Wohlklang der Stimme und feuriges Auftreten formten die ideale Verkörperung der Rolle. Diese Costanza wurde von der auch in Wien bekannten Mariam Battistelli sehr gut gesungen (mit einigen Abstrichen bei der Intonation) und temperamentvoll gespielt. Mit der weiteren Mezzorolle des Ottone, fieser Verehrer der Griselda, dem sie „geschenkt“ werden soll, hatte Francesca Ascioti mit kleiner Stimme und wenig ausgeprägter Tiefe zu kämpfen, doch gefiel sie mit engagiertem Einsatz. In der Rolle des Corrado, einziger Mitwisser von Gualtieros Plänen, fiel der junge polnische Tenor Krystian Adam sehr positiv auf. Der achtjährige Carlo Buonfrate, der das Kind Everardo verkörperte, gestaltete seine stumme Rolle wie ein Profi.

Es war für Regisseurin Rosetta Cucchi sicher keine leichte Aufgabe, Leben in die statische Handlung zu bringen. Sie führte beispielsweise die Figur eines Priesters ein, der Gualtiero sichtlich anspornt, bei seinen Plänen zu bleiben, auch waren bedrohlich wirkende Beichtstühle zu sehen. Stumme Figuren versinnbildlichten die Qualen, die Griselda zu erleiden hat. Mit Hilfe von Skulpturen aus Plexiglas, die in der Beleuchtung von Pasquale Mari die verschiedensten Formen annehmen konnten, hatte Tiziano Santi ein karges, aber atmosphärisches Bühnenbild entworfen. Rollenentsprechend die Kostüme von Claudia Pernigotti (besonders schön das rote Kleid, das Battistelli bei ihrem ersten Auftritt trug).

Beginn um 21 Uhr, Ende um 0.30 Uhr, bei nur einer Pause! Ein interessiertes Publikum blieb gern bei der Stange und feierte am Schluss alle Beteiligten.

L’ANGELICA

Am 30.7. fand am selben Ort eine Aufführung des Werks von Nicola Porpora statt, bei dem es sich um eine Serenade handelt, die von Gianluca Falaschi für Regie, Bühnenbild und Kostüme betreut wurde. Der Künstler ist ursprünglich Bühnenbildner, was jederzeit zu merken war, denn allein schon der raumfüllende Tisch mit seinem prachtvollen Blumengebinde machte etwas her. Allerdings wäre es wohl auch einem erfahreneren Regisseur schwer gefallen, den Inhalt einer nicht umsonst als Serenade ohne eigentliche Handlung angelegten Komposition wiederzugeben. Der Text ist eines der ersten Werke von Pietro Metastasio und behandelt eine Episode aus Ariosts „Orlando furioso“, in der dieser „rasende Roland“ auf der Suche nach der von ihm angebeteten Angelica ist. Er trifft auf das Schäferpaar Licori, Tochter des Titiro, und Tirsi. Angelica liebt aber Medoro, was der Anlass dafür ist, dass sie die jungen Leute einsetzt, um Orlando auf eine falsche Fährte zu locken und ihm zu entwischen. Da sich also wenig tut, sah Falaschi sich veranlasst, die seltsamsten Figuren auf die Bühne zu stellen, die den Tisch deckten und wieder abräumten oder als Commedia dell’arte-Gestalten auftraten. Dazu jede Menge Schattenspiele, auch auf fliegende Fische wurde nicht verzichtet. Das Auge konnte also seine Freude haben, auch an den farbenfrohen Kostümen, aber eines gewisses „Cui bono“ konnte man sich als Zuschauer nicht erwehren.

Das Orchester, La Lira di Orfeo, erschien unter der Leitung von Federico Maria Sardelli im Vergleich zum Vortag wie ausgetauscht. Spritzig und brillant erklangen auch die Rezitative des von Porpora (1686-1768) für seinen Schüler Carlo Broschi, weltbekannt als Kastrat Farinelli, geschriebenen Werks (der Sänger war damals 15 Jahre alt). Die Arien besaßen je nach ihrer Ausrichtung die nötige Dramatik oder Verspieltheit.

In der Titelrolle bestach der russische Sopran Ekaterina Bakanova mit starker Persönlichkeit und stilistischer wie technischer Sicherheit. Ihr ebenbürtig Teresa Iervolino, die Orlandos Zornesausbrüche mit vollem Mezzo sang und die furiose Wahnsinnsszene am Schluss atemberaubend gestaltete (dazu war Falaschi die schaurige Darstellung eines blutigen Herzens eingefallen). Gepflegt der Mezzo von Gaia Petrone (Licori), schwächer der Sopran Barbara Massaro in der schwierigen Farinellirolle des Tirsi. Auch Paola Valentina Molinari (Medoro) war mit unzureichenden stimmlichen Mitteln nicht sehr überzeugend, und eine Enttäuschung die einzige Männerstimme des Abends, der Bariton Sergio Foresti (Titiro).

Man erfreute sich also in erster Linie an der Orchesterleistung unter Sardelli und den Stimmen von Bakanova und Iervolino, die überaus herzlich bedankt wurden.

LA CREAZIONE

Gleichfalls am selben Ort wurde am 31.7. Haydns „Schöpfung“ in italienischer Sprache gegeben. Fabio Luisi, Musikdirektor des Festivals, hatte sich das so gewünscht, wie schon bei Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“ im Vorjahr.

Von dem Oratorium gab es bereits eine Übersetzung des in Wien lebenden Giuseppe Antonio Carpani (1752-1825), doch hatte sich Festivalleiter Rodolfo Celletti 1988 eine Neufassung bei Dario Del Corno bestellt (dessen Sohn ist übrigens der sehr fähige Mailänder Kulturstadtrat = Assessore alla cultura). Diese wurde damals vom jungen Fabio Luisi geleitet, womit sich für ihn als Musikdirektor des Festivals der Kreis schließt. Luisi führte das Orchestra del Teatro Petruzzelli di Bari und den Coro Ghislieri zu einer wunderbaren Leistung, in der Haydns Musik in einer so berührenden, naiven Gläubigkeit aufblühte, dass man als Atheist fast neidisch werden konnte. Die Struktur der Musik kam leicht und flüssig daher, ohne irgendwie didaktisch zu wirken. Die Übersetzung passte sich wunderbar geschmeidig an, wobei das klangvolle Italienisch schon einen natürlichen Vorteil besitzt.

Ebenfalls ausgesprochen gelungen die szenische Umsetzung, die man ursprünglich nicht für unbedingt notwendig gehalten hatte. Doch der Skeptiker war rasch vom Gedankengang des Regisseurs Fabio Ceresa überzeugt, der der Schöpfung der Erde durch Gott parallel die künstlerischen Errungenschaften des Menschen gegenüberstellte, die sich an den sechs Schöpfungstagen als Architektur, Poesie, Musik, Tanz, Malerei und Skulptur erwiesen. Man wurde nicht müde, den fabelhaften Tänzern der Fattoria Vittadini zuzusehen, die die Bedeutung der Musik und der dargestellten Künste wunderbar umsetzten. Die Gruppe besteht aus 8 Tänzern, deren eine, Maria Giulia Serantoni, einen selbst noch lernenden, androgynen Kindgott hinreißend zum Leben erweckte. Für die phantasietrunkene Choreographie kann man Mattia Agatiello nicht genug danken. Im auf das Essentielle reduzierten Bühnenbild von Tiziano Santi steuerten Gianluca Falaschi und Gianmaria Sposito die begeisternden Kostüme bei, Pasquale Mari die faszinierende Beleuchtung. Und ohne Holzhammer wurde eine wichtige Aussage verständlich gemacht, wenn alle Religionen gleichwertig ihren Platz fanden, ebenso wie drei Paare: Er-Sie, Er-Er, Sie-Sie.

Auf sehr gutem Niveau auch die Sänger: Die Spanierin Rosalia Cid bestach als wunderbar reinstimmiger Erzengel Gabriel; ihr zur Seite der Ukrainer Vassily Solodkyy als imposanter Uriel. Alessio Arduini gab mit dunkler, fast zum Bassbariton gereifter Stimme den Raphael. Reizvoll der frische Gesang der jungen Interpreten von Adam und Eva: der Katalane Jan Antem und die Neapolitanerin Sabrina Sanza.

Großer Jubel bedankte diese wunderschöne, sinnstiftende Produktion.

IL CANTO DEGLI ULIVI

Masseria Palesi 28.7.

Die unter der suggestiven Bezeichnung „Der Gesang der Olivenbäume“ in verschiedenen Gutshöfen in der Umgebung von Martina Franca stattfindenden Solistenkonzerte sind immer hochinteressant. Dies gilt auch für den von Veronica Simeoni (Mezzo) und dem Pianisten Vincenzo Rana zusammengestellten Abend, der in der ersten Hälfte französischen Opern gewidmet war, in der zweiten deutschsprachigem Liedgut.

Simeoni widmete sich im französischen Teil drei Frauengestalten, die den Tod suchen: Alceste in Christoph Willibald Glucks gleichnamiger Oper, Didon im 2. Teil der „Troyens“ von Berlioz und schließlich Sapho (sic!) in Charles Gounods erster Oper. Alle drei Frauen blicken aus Liebe dem Tod in die Augen: Alceste will sich für ihren Gemahl opfern, Didon sucht den Freitod, weil sie von Enée verlassen wurde; diesen begeht auch Sapho, weil sie auf Grund einer Intrige ihre Liebe zu Phaon verleugnen muss. Die Künstlerin verlieh den „Divinités du Styx“ die notwendige Grandiosität, drückte in „Ah! Je vais mourir… Adieu fière cité“ die leidenschaftliche Klage einer verlassenen Frau aus und brachte Gounods melodisches Genie mit „Ô ma lyre immortelle“ zu schönstem Erblühen.

Zu Beginn des Liedteils rezitierte die Sängerin außer Programm sehr intensiv ein zu der Thematik passendes Gedicht mit dem Titel „Alcesti“ der von ihr geschätzten Dichterin Mariangela Gualtieri.

Mit Richard Strauss („Morgen“ und „Zueignung“) und Gustav Mahler („Das irdische Leben“, „Urlicht“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“) betrat Simeoni einen von italienischen Sängern selten begangenen Weg. Abgesehen von einer noch möglichen Verfeinerung der Aussprache waren die Interpretationen ein großes Erlebnis, getragen vom profunden Verständnis der Künstlerin für die Musik von Gustav Mahler. Da war es nur zu schlüssig, dass sie am Schluss um Verständnis bat, dass sie keine Zugaben singen würde, denn zu tief sei sie von diesen Liedern berührt.

Am großen Erfolg war auch Vincenzo Rana beteiligt, der nicht nur ein überaus aufmerksamer Begleiter war, sondern auch eine „Melodie für Soloklavier nach Orfeo e Euridice“ des Liszt-Schülers Giovanni Sgambati und ein Andante aus den „Fünf Klavierstücken op. 3“ von Richard Strauss zu Gehör gebracht hatte.

Eva Pleus 17.8.21

Bilder: Clarissa Lapolla (Griselda, Angelica, Schöpfung), Paolo Conserva