Erl: „Das Rheingold“, Richard Wagner

Kann man, muß man Wagners Ring immer wieder neu deuten? Nun, jeder, der sich mit Wagners opus magnum beschäftigt, weiß, daß die Tetralogie stets zu neuen Gedanken, Assoziationen und Vergleichen (ent)führt und es eher krampfig und sichtbar bemüht endet, wenn man sich als Regisseur bemüßigt fühlt, einen völlig neuen Ansatz zu präsentieren.

Das universale Psycho-Endzeit-Drama bleibt lebendig durch die Wahrnehmung und Beleuchtung all der Feinheiten, Charakterbilder, Dialoge und seiner Tiefsinnigkeit – das ist Brigitte Fassbaender mit ihrem 2021 im Nordtiroler Festspielort Erl begonnenen Ring bravourös gelungen.

„Werkstatt“ steht inszenatorisch-programmatisch tatsächlich nicht nur auf den Regietüren des Bayreuther Hügels, sondern auch die Mitwirkenden in Erl haben beständig an der Produktion gearbeitet, um am 5. Juli 2024 legten Solistinnen und Solisten sowie das Orchester der Tiroler Festspiele Erl mit dem Rheingold eine absolut reife Leistung ab, an der es nichts zu mäkeln gibt. Die durch das Haus bedingten Einschränkungen in den technischen Möglichkeiten werden überhaupt nicht als solche wahrgenommen.

© Xiomara Bender

„Für mich ist jede Oper ein Schauspiel mit Musik“, sagte Brigitte Fassbaender einmal, und wer mit ihr gearbeitet hat, weiß, daß sie mit dem Wort beginnt, um, davon ausgehend, die musikalische Umsetzung anzugehen. Bei solch einem Weltentwurf faustischer Dimension wie dem Ring des Nibelungen mit all seinen Bedeutungsebenen und Querverweisen ist es maßgeblich, genau hinzusehen, was gesagt wird und wie es gesagt wird bzw. wie die Musik die Worte tönt und deutet. Gerade das Rheingold ist voller Humor und Wortwitz, und selbsternannte Ruhmeshüter des „Meisters“ sind in der ganzen Rezeptionsgeschichte mit beachtlicher Ignoranz am eigentlichen augenzwinkernden Tiefsinn von Wagners Schöpfung vorbeigerauscht, wenn sie das vermeintlich deutsch-hehre Monument mit einer neuen Granit-Verblendung versahen – letzteres sei doppelbödig verstanden.

Die große Qualität der Erler Produktion liegt – unter anderem – in der aufmerksamen Behandlung des Librettos und einer hingebungsvollen Personen- und Bewegungsregie. Im ausgesprochen gut gemachten Programmheft mit zahlreichen, klug ausgewählten Texten sagt Brigitte Fassbaender, Wagner habe seinen Sängern erstmal beibringen müssen, sich natürlich zu bewegen, aber eine Musik geschrieben, „in der man eigentlich nur rumstehen oder dauerschreiten kann“. Das tut in Erl niemand und bei vielen Szenen muß man achtgeben, nichts von den Interaktionen der Personen, ihrer Mimik und scheinbar beiläufigen, aber stets inhaltsträchtigen Handlungen zu übersehen.

© Xiomara Bender

Eine „Männeroper“ sei das Rheingold, so Fassbaender, und in der Tat haben die Damen entweder wenig zu melden oder nur kurze Auftritte, wobei alle Sängerinnen und Sänger durchweg auch stimmlich restlos überzeugen. Freia (Elizabeth Reiter), bekanntermaßen Opfer eines unbedachten Männer-Handels unter Anführung eines letztlich unfähigen Wotan (Simon Bailey), wird hier sogar von den eigenen Brüdern angegrabbelt, bis Fricka (Bianca Andrew) dem albernen Schwächling Froh (Brian Michael Moore) einen Klaps auf den Hinterkopf gibt. Dieser Froh mit seinen zu bunten Dandy-Klamotten erinnert ein bißchen an Lars Eidinger in Babylon Berlin, was ihn noch unseriöser macht. Unseriös – das ist in der Tat fast die ganze Götter-Gesellschaft; auch Donner (Manuel Walser) ist mehr Macker als Macher und protzt gleich mit zwei Hämmern. Das entspricht Wotans Speersammlung – für jede ach so wichtige Angelegenheit hat er einen eigenen. Seine Yoga-Meditation zu Beginn wirkt auch eher aufgesetzt – Tiefenentspannung wird ihm nur das eigene Ende bringen. „Wandel und Wechsel liebt, wer lebt“, weiß er, und so wird der Wechsel von der Kontrolle zur Machtabgabe ihn schließlich erlösen.

Die Riesen Fasolt (Robert Pomakow) und Fafner (Anthony Robin Schneider) sind eher Scheinriesen, wie man sie aus Michael Endes Jim Knopf kennt, denn Plateausohlen und große Hüte machen eben noch keine Titanen. Riesig sind nur ihre Schatten.

Auch bei den Rheintöchtern (Ilia Staple, Karolina Makuła und Katharina Magiera) weiß man nicht so genau, ob sie Fisch sind oder Fleisch, denn nach dem Ablegen ihrer schwarzen Perücken wirken sie unverführerisch und – für Alberich (Thomas de Vries) ohnehin unverführbar. Man hat schon fast Mitleid mit dem üblen Zwerg, auch wenn er seinen Bruder Mime (Peter Marsh) aufs Blut quält. Fauler Zauber macht aus dem Schatten einer Theater-Kobramaske einen Riesenwurm, die Götter können nur darüber lachen. Lachend – so erlebt man die Hauptfigur dieses Rheingolds, den stets dominanten, schwefelgelb gewandeten, am Hals flammend-zackig tätowierten Loge (Ian Koziara) – die Oper hätte in Erl auch „Loges großer Tag“ heißen können. Seine Mimik, Gestik und all die Späße, die sich der unangreifbare Außenseiter erlaubt, sind großartig durchkomponiert und umgesetzt.

© Xiomara Bender

Wirkliche Respektsperson ist eigentlich nur Erda (Zanda Švēde), die als Grande Dame auf die minimalistische, auf das Wesentliche fokussierende Bühne von Kaspar Glarner einherschreitet. Die Video-Projektionen dienen stets nur der Handlung und der Stimmung – eine geniale Idee vom Gesamtkunstwerk ist das Alpenpanorama in den Walhall-Szenen. So entsteht eine Brücke zum grandiosen Außen, das die Festspielbesucher auf dem Vorplatz überwältigt, und es macht klar: Das alles passiert hier und jetzt, allein Menschen sind es, die sich korrumpieren lassen, und die Menschheitsdämmerung ist in Sichtweite, wenn wir einfach so weitermachen.

Es sind diese mannigfaltigen kleinen Einfälle, die diese Produktion so sehenswert machen, etwa wenn Alberich das Gold – es ist das Tafelgeschirr der neckischen Nicker – als das zu begreifen beginnt, was es ist, in einen der Teller beißt und zwei Servierglocken exakt dann zusammenschlägt, wenn das Becken aus dem hinter der Bühne, von einer Gazewand stets ahnbar verborgenen Orchester, schallt.

Dieser Klangkörper pflegt einen eher leichten Wagnerklang ohne pathetische Wucht, Erik Nielsen berücksichtigt in seinem Dirigat auch die eher verhaltenen Töne, was die Vielschichtigkeit des Librettos hervorhebt.

Damit geht man in dieser Produktion in gewissem Maße lässig um; zwar wird der gesamte Text in durchweg großartiger und verständlicher Diktion von allen Sängerinnen und Sängern wiedergegeben, aber es gibt Einsprengsel, etwa, wenn die Rheintöchter bei der Verhöhnung Alberichs ihr „Wagalaweia“ zum Spottgesang machen und ihm das scheinbar noch nicht verlockende Gold vorhalten, bevor er sich mal die Gießermarken besieht, um den Wert zu begreifen. Loge beantwortet Donners Klage um seine schwindende Kraft mit einem gespielt bedauerndem „Ooooooh“ und Frohs Bemerkung, ihm stocke das Herz, mit spöttischem “bumbumbumbum“. Mehr davon wäre zuviel gewesen, so aber begreift man das Wesen Loges als „Trickster“, eines Wesens wischen den Welten, das in den Mythologien der Welt die scheinbar festgefügte Ordnung der Götter stört oder, wie hier, auch Lösungen bringt, wo der starre Geist sie nicht zu suchen vermag.

© Xiomara Bender

Ein letzter Spaß dessen, der auch mal einen Klumpen des Nibelungenhorts in der eigenen Sakkotasche verschwinden läßt, ist, daß er den klagenden Reintöchtern am Ende den kargen Rest des einstigen Reichtums in die trauliche Tiefe wirft – es ist ein goldener Löffel.

Für Monty Python-Kenner ist das ein geistreiches Zitat, denn im „Leben des Brian“ ist das einzige, was eine ganze römische Kohorte des mächtigen Imperiums in der geheimen Zentrale der revolutionären „Volksfront von Judäa“ anstatt des gesuchten Aufrührers findet, ein Löffel. Den geben sowohl die Römer als Weltmacht am Ende ab, wie die Götter des so stolzen Walhall. „Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen“ – das gilt für alle Machthaber der Welt, die falsch und feig ihre Diktaturen stärken. So ist der Ring hier auch kein Reif, sondern der Schlagring eines schurkenhaften Bandenbosses.

Die Parabel geht auf in Erl und ein entflammtes Publikum feiert den Vorabend der Tetralogie mit begeistertem Applaus. „Weißt du, wie das wird?“ – mit Spannung wird der Fortgang erwartet.

Andreas Ströbl, 6. Juli 2024


Das Rheingold
Richard Wagner

Tiroler Festspiele Erl

5. Juli 2024

Inszenierung: Brigitte Fassbaender
Musikalische Leitung: Erik Nielsen
Orchester der Tiroler Festspiele Erl