Baden-Baden: „Don Giovanni“

Vorstellung am 23.05.13 Premiere: 17.05.2013

Quirlige, moderne Umsetzung – zeitgemäß rabiat

Man engagiere den besonderen Dirigenten mit seinem etwas besonderen Orchester, dazu ein Sängerensemble, das mit Weltstars gespickt ist und einen Regisseur der gemäßigten Moderne, dann heißt es am Ende: „alle (vier) Vorführungen sind ausverkauft“; in der schönen Schalterhalle des alten Baden-Badener Bahnhofs, die heute das standesgemäße Eingangsfoyer mit der Kasse des Festspielhauses bildet stehen reihenweise Interessenten und zeigen einen kleinen Karton. „Suche Karte“ steht darauf. Wollen die Leute unbedingt eines der Traumpaare der Oper hören und sehen (Anna Netrebko und Erwin Schrott), erinnern sie sich an die glänzenden Dirigate, die Thomas Hengelbrock hier schon abgeliefert hat oder sind sie auf die Bebilderung des Regisseurs Philipp Himmelmann und seines Regieteams aus? Mit seinem Konzept „Klotzen statt Kleckern“ kann Intendant Andreas Mölich-Zebhauser in dem kleinen Städtchen am Schwarzwald-Rand fast 10.000 Opernkarten verkaufen. Einzugsgebiet der Zuschauern nach den Kennzeichen der Theaterbusse und der Wagen in der Tiefgarage (in die man leicht hineinfahren kann, aber nach Veranstaltungsschluss nur mühselig wieder herauskommt, dieses Mal fast eine Viertelstunde): leicht 200 km. Die Preise der Baden-Badener Opernbillette haben jetzt die der hoch subventionierten Musentempel in Paris, Zürich, Mailand, München und Wien hinter sich gelassen und nähern sich denen der großen Festspiele an. Aber immerhin, wenn man sich rechtzeitig entscheidet gibt es Karten, ohne dass man ein Gesuch in dreifacher Ausfertigung einreichen muss und sich wie ein Bittsteller vorkommen muss.

Don Giovanni schneidet dem Komtur die Kehle durch, Lepoerello hält die Szene fest: Luca Pisaroni (Leporello); Erwin Schrott (Don Giovanni); Mario Luperis (Commendatore); Foto: Stephanie Schweigert

Wenn man die Regiearbeit nur nach der dramaturgischen Stringenz beurteilt, dann passt einiges nicht. Der Regisseur Philipp Himmelmann verlegt die Handlung der Oper (original in der Sommerglut Sevillas) ohne Not und Mehrwert in einen winterlichen borealen Garten (Aber nur ein kleinerer Teil des Bühnenpersonals braucht Winterkleidung.) Auf Masettos Hochzeitsparty haben alle Männer eine Flasche Wodka in der Hand. Giovanni vergewaltigt Anna in einer kalten Winternacht vor hellem Himmel. Dass sie ihn später nicht gleich wiedererkennen will, wirft kein gutes Licht auf sie, und die Vergewaltigung war wohl auch keine, denn später knutscht sie hinter dem Rücken ihres Mannes mit Giovanni herum. Ihr Gewissen erwachte aber, und sie tritt schließlich in echter Trauerkleidung auf. „Anpassungen“ bei der deutschen Übertitelung glätten manche Reibungen zwischen dem Originaltext und dem Bühnengeschehen. Der Originalität der Regiearbeit kann man aber die Anerkennung nicht verweigern: denn in Teilen der Bewegungsregie und vor allem in der Zeichnung der Charaktere gibt es viel Neues und Kreatives. Viele Einfälle (darunter allerdings auch flache,) und kleine witzige Änderungen – bei den Einwürfen von der Musik unterstützt und sinnig anderen in den Mund gelegt als im Libretto vorgesehen – zeugen von Esprit.

Mitte: Jonathan Lemlu (Masetto); ganz rechts: Luca Pisaroni (Leporello); Foto: Jochen Klenk

Die Bühne hat Johannes Leiacker gebaut. Eine schwarze Trennwand, auf die ein klarer Nachthimmel mit Sternen Spiralnebeln und Kometen projiziert ist schließt zunächst die Bühne hinter einer kleinen Spielfläche. Diese Wand kann ganz oder teilweise geöffnet werden, bieten dann Durchgänge und Fenster, kann aber auch ganz beiseite gezogen werden, wodurch sich der Blick auf die winterliche Gartenlandschaft öffnet: ein kleiner kahler Baum, ein kleines Holzpodest mit ein paar Rokokostühlen und ein oder zwei grauen Statuen. Die Hinterwand stellt wieder den Nachthimmel dar; nun aber im Negativ: Himmel weiß, Sterne, Kometen und Spiralnebel schwarz: verkehrte Welt. Dann ist da vor dem Podest eine bedeutungsschwangere Öffnung nach unten – eine Art Kellertreppe. Giovanni, der dem Komtur die Kehle durchschneidet, entsorgt den Leichnam auf diese Kellertreppe. In der Szenenfolge werden Duette und kleinere Ensembles vor die Wand verlegt, was ihnen wohl eine gewisse Intimität verleiht, in der szenischen Wirkung sich allerdings einer konzertanten Aufführung annähert. Rokoko-Versteckspiele und Situationskomik der Entstehungszeit werden außen vor gelassen. Baum und Garten geben somit ein Einheitsbühnenbild ab, das langsam durch weitere Bestückung bis hin zum Kirchhof mit vielen grauen Statuen entwickelt wird, die sich zum Finale des zweiten Akts beleben und in eben jenes Loch marschieren, in welchem – vorhersehbar – auch Giovanni entsorgt wird. Auf dem Kirchhof vermuten die beiden Freunde die Quelle von des Komturs Mahngesang auch in diesem Loch, was auch Sinn macht: denn beerdigt kann der nach zwanzig Stunden ja schon sein; aber woher kommt eigentlich so schnell seine Statue im Original?

Malena Ernmann (Donna Elvira) und Erwin Schrott (Don Giovanni); Foto: Jochen Klenk

Die hübschen, variationsbreiten Kostüme von Florence von Gerkan zeigen eine moderne Spaßgesellschaft. Bunt gekleidet sind der Chor wie die Bühnenmusiker des ersten Finales. In der Personenführung geht Himmelmann vor allem meisterlich mit dem Chor um: in dieser Aufmischung der Menge steckt viel dynamische Bewegung! Viel Bewegung entsteht auch bei den Solisten, die alle eine deutliche Aggressivität im Verhalten zeigen. Giovanni als besonders ungezogener Flegel ist hier führend, aber selbst die Damen sind keine Lämmchen. Leporello macht von den Episoden Fotos mit seinem Telefon. Mit seinem Trolley scheint er stets abreisebereit. Aber er führt lediglich die Fotoalben seines Herrn mit sich, die er in der Registerarie vor Elvira aufblättert: dazu braucht er also die Fotos! Elvira sucht hastig nach den ihren: könnten die vielleicht kompromittierend sein? Die Solisten dürfen aber auch häufiger an der Rampe stehen. Vielleicht haben sie sich das in dem großen Saal ausbedungen; verständlich wär’s. Akustisch hilft beim Sologesang natürlich auch die große schwarze Trennwand ziemlich weit vorne, wenn davor gespielt und gesungen wird.

Charles Castronovo (Don Ottavio) und Anna Netrebko (Donna Anna); Foto Stephanie Schweigert

Im Graben hatte Thomas Hengelbrock sein Balthasar-Neumann-Ensemble mit einer genügend großen Besetzung versammelt und präsentierte es in Höchstform. Er spielte den Don Giovanni durchaus anders als schon vielfach gehört. Immer wieder hob er aus dem Orchester die Bläser (Originalinstrumente) heraus, die er zu deren herausklingenden Einsätzen auch aufstehen ließ. Da gab es markante Posaunenklänge und schöne Holzfärbungen; insgesamt verlieh diese Auslegung der Instrumentierung der Musik deutlich mehr Relief. Die Tempi gestaltete Hengelbrock erstaunlich variabel, überwiegend in gemessenem Tempo, aber mit stark akzentuierter Agogik mit ganz erstaunlichen rubati teilweise mitten in der Phrase. Dazu vor allem viele Kunstpausen in den Secco-Rezitativen, wodurch ein lakonischer Dialogcharakter zustande kam oder auch als Ironiezeichen gesetzt. Beim Quartett Non ti fidar, o misera wurde diese Technik auch bei einer Musiknummer angewandt, wodurch diese allerdings auseinanderfiel. Jory Vinikour am Hammerflügel begleitete die secchi; „begleiten“ ist übertrieben, denn vielfach betupfte er sie situationsgerecht nur mit trockenen Akkorden, meist nur einmal angeschlagen, seltener kamen kommentierende und ironisierende Linien; auf die Kadenzen verzichtete er. Alles jeweils neu und ganz individuell erfunden. Zu gefallen wusste auch der Balthasar-Neumann-Chor sowohl stimmlich als auch in der fordernden Choreographie. Mit dem üblichen Strich im zweiten Akt kam die Oper insgesamt auf über drei Stunden reine Spielzeit, obwohl auch dalla sua pace gestrichen war.

Erwin Schrott (Don Giovanni); Anna Netrebko (Donna Anna); Foto: Jochen Klenk

Erwin Schrott hat sicherlich mit dem Don Giovanni eine seiner Paraderollen gefunden. Man nimmt den Frauen sofort ab, dass sie sich von ihm flachlegen lassen. Dabei weiß man als Betrachter nicht so recht, was an diesem Sängerdarsteller das Größte ist: seine mitreißende Jungmacho-Bühnenerscheinung (hier in Schwarz mit tief geöffnetem Hemd), sein gekonntes lebendiges Spiel oder der geschmeidige kräftige Bassbariton mit seiner dunklen Durchschlagskraft. Als verwöhnt unartiges und verzogenes großes Kind mischt er die Bühne auf. Der Sänger Erwin Schrott ist bis 2017 ausgebucht! Wahrscheinlich kann man ihn derzeit nur im Doppelpack mit seiner Anna buchen. Ursprünglich war für die Pfingstoper in Baden-Baden Anna Netrebko als Gräfin in den Nozze geplant (mit Schrott als Figaro), aber Anna sang lieber Donna Anna; und so hat man eben die Oper getauscht. Die Nozze kommen später nach Baden-Baden (ebenfalls mit Himmelmann als Regisseur). Netrebkos Stimme scheint ein wenig dunkler geworden zu sein; auf jeden Fall wärmer und etwas schwerer, was bei der jugendlich dramatischen Anlage der Donna Anna sehr gut ankommt. Aber auch die feineren Passagen hatten eine schöne Tiefe. Der dritte Weltstar des Abends war Luca Pisaroni als Leporello. Elegante Kantilenen bei bester Textverständlichkeit zeichnen diesen Bassbariton aus, dessen etwas hellere Stimme gut mit der von Giovanni kontrastierte, mit dem er in ständig wechselnden Stimmungen mal gemeinsam kumpelhaft lachte und sich dann wieder ziemlich harsch unterdrücken ließ. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Pisaroni, etwas plebejisch in großkarierter Wolljacke, zeigte mit wendiger und facettenreicher Stimme und großer Ausdruckskraft, was in der Leporello-Rolle steckt.

Charles Castronovo gab mit kräftigem baritonalem Tenor einen Don Ottavio der Extraklasse. Schade, dass ihm eine Arie gestrichen wurde (dramaturgisch ein Gewinn, musikalisch ein Verlust). Anders als sonst die hellen Ottavios gab die Regie diese Rolle auch nicht der Lächerlichkeit preis. Castronovo erzwingt sein dunkles Timbre nicht mit kehligem Gesang, sondern wirkt ganz natürlich. Mit Malena Ernman war eine Donna Elvira aufgeboten, die in der Mittellage ein etwas ausladendes mezzo-artiges Material präsentierte, die Höhen teilweise scharf gestaltete, aber in den Koloraturen voll überzeugen konnte. Da hätte man sich für die Zerlina zur Vervollständigung des Stimmenspektrums eine helle, silbrige Stimme gewünscht; aber auch Katija Dragojewic verfügte in dieser Rolle über einen deutlich eingedunkelten Sopran, aber schlankes und klares Stimmmaterial, mit welchem sie sie Zuschauer ebenso wie mit ihrem reizenden Spiel überzeugte. Jonathan Lemalu, in der Rolle des Masetto als eitler und gewalttätiger Tölpel gezeichnet, gefiel mit polternd dunklem Bass. Schwächer war Mario Luperis Bass als Commendatore. Der war nicht dämonisch fest oder schwarz strömend und wirkte überdies in einer verstärkten Passage unnatürlich.

Das Publikum feierte die Vorstellung nachhaltig mit großer Begeisterung.

Manfred Langer, 24.05.2013