Dirk Schauss, 24.10.2020
Es war wohl die Tragik ihres kurzen Lebens, dass ihr für die Tragik auf der Bühne nicht immer die erforderlichen „Accente“ zu Gebote standen. Anna Sutter, Sängerin, 1871 in der Schweiz geboren und 1910 in Stuttgart gestorben, setzte ihre Akzente im Leben. Mit einem enormen Ehrgeiz und Selbstbewusstsein ausgestattet bediente sie sich männlicher Verhaltensweisen, die Liebhaber aus dem Opernmilieu, Sänger und Kapellmeister und die hübschen Leutnante wechselten einander ab. Dass sie zwei uneheliche Kinder von zwei verschiedenen Männern (diese bekannten sich zur Vaterschaft) hatte, schadete ihr in einer Zeit, in der das in einer sehr moralischen Gesellschaft völlig indiskutabel war, überhaupt nicht. Nicht sie musste ihr Engagement am Hoftheater in Stuttgart aufgeben, die Männer mussten gehen und nahmen das Fräulein Sutter nicht einmal übel. Nur einer ihrer Liebhaber, der verheiratete Hofkapellmeister Dr. Aloys Obrist schaffte es nicht, seine Eifersucht zu zügeln. Nachdem er wieder einmal abgewiesen wurde, erschoss er sie und anschließend sich am Vormittag des 19. Juni 1910.
Anna Sutter absolvierte ein Klavier- und Gesangsstudium, bekam Rollen in Singspielen und wurde als Soubrette beschäftigt. Nach nur acht Wochen in Augsburg bekam sie bereits eine Empfehlung eines Agenten an Baron Putlitz, Intendant an der Hofbühne in Stuttgart. Ab 1893 war sie in Stuttgart fest engagiert und sang sich dort quer durch die verschiedenen Genres von Oper und Operette, von der Lustigen Witwe zur Salome, von der Zigeunerliebe zur Carmen.
Die Stuttgarter liebten ihr „Sutterle“, die Kritiker waren da weniger emotional und bescheinigten ihr eine fehlerhafte Behandlung der Konsonanten, ungraziöses Spiel, plumpe Bewegungen und Gesten und eine flache reizlose Stimme in der Höhe. „Vielleicht kann sie sich, was ihr jetzt abgeht, mit der Zeit aneignen, nur scheint uns unsere Hofbühne nicht das geeignete Versuchsfeld dafür zu sein“ steht im Neuen Tagblatt vom 9. Dezember 1892.
Die Kammeroper Frankfurt ist ein freies Opernensemble in Frankfurt am Main, das 1982 von dem Regisseur Rainer Pudenz gegründet wurde. Sie besitzt keinen festen Spielort, auch wenn sich die sommerlichen Großproduktionen inzwischen fest als Open-Air-Darbietung im Frankfurter Palmengarten etabliert haben. In der Regel erscheinen pro Jahr zwei bis drei Produktionen, darunter eine Großproduktion im Sommer. Ein Schwerpunkt der Produktionen liegt auf der Opera Buffa, wie sie von Rossini, Donizetti und Mozart geprägt wurde. Gelegentlich wird auch heitere Kost wie Singspiele und Operetten von Offenbach oder Lehar präsentiert oder aber, gerade in den letzten Jahren, dramatische Opern von Verdi, klassisch-modernes wie Strawinskis „Geschichte vom Soldaten“ oder im Sinne des Entdeckergeistes zeitgenössische Auftragskompositionen vom italienischen Avantgardisten Andrea Cavalleri. (Wiki)
Das Leben der Anna S. wird in der Inszenierung der Kammeroper Frankfurt nicht nacherzählt, nicht chronologisch abgehandelt. „Tod einer Diva“ stellt das Leben in den Mittelpunkt, besonders „das Verhältnis zwischen der Oper und dem sogenannten wirklichen Leben“ schreibt Bert Bresgen im Programmheft. Anna S., der ja ungraziöses Spiel bescheinigt wurde, sagt im Laufe des Abends, dass sie es liebt, zu spielen und dass ihr das Geschehen auf der Bühne realer erscheint als das wirkliche Leben.
Anna S., gesungen und gespielt von Dzuna Kalnina, empfängt das Publikum in der Weihehalle der Unitarischen Freien Religionsgemeinde spielend am Flügel. Diese Halle wirkt mit ihrem halbrunden um einige Stufen erhöhten Altarraum und den zwei Säulen wie eine Opernbühne, opulent bestückt mit gleich zwei Flügeln, einer davon geöffnet (Bühne und Licht Frank Keller). Für den Musiktheater-Abend wurde Musik von Vincenzo Bellini, Georges Bizet, Wolfgang Amadeus Mozart, Jacques Offenbach, Richard Strauss, Johann Strauß, Giuseppe Verdi, Johann Sebastian Bach und Hugo Wolf ausgewählt. Als Anna S. mit dem Pianisten die Salome einstudieren will weißt er sie, die ja aus der eher leichten Muse kommt, darauf hin, dass es sich um Musik von Richard Strauss und nicht von Johann Strauß handelt. Der Pianist Stanislav Rosenberg, der die musikalische Leitung der Inszenierung innehat, spielt gleichzeitig die Rolle des Aloys Obrist. Während der Proben zur Salome begann wohl das Verhältnis mit Anna S.
Es gibt viel zu lernen für die Sängerin, einen Auftritt ihres Sängerkollegen, dem Bass-Bariton Thomas Peter begleitet sie auf der Bühne als dessen Schatten, gleiche Bewegungen und lippensynchron. Ein schöner Regieeinfall ist es, die Geige und Bratsche spielende Yumico Noda sich selbst begleiten zu lassen, ein mal hinter einem durchscheinenden Wandschirm als Videoeinspielung, ein mal live auf der Bühne.
Aber Anna S. weiß sich auch selbst gut in Szene zu setzen, silbrig schimmernd gekleidet in einen langen Plisseerock und eine hochgeschlossene Bluse (Kostüme von Dilara Mauel) rollt sie sich selbst den roten Teppich aus. Temperament hat sie ja, da genügen einige Tritte mit dem Fuß. Gelernt hat sie bereits, sich den Avancen der Männer zu entziehen, wenn sie das will, ob es der Stuttgarter Intendant Baron Putlitz (Harald Mathes) ist, der bieder gekleidet mit Blumen um sie herumschwänzelt und der durchaus auch ein Mann aus dem ihr zu Füßen liegenden Publikum sein könnte. Oder eben der Herr Obrist, der ihr ein, zwei, drei sie langweilende „ich liebe dich“ zuruft, der jeden Abend im Publikum sitzt, er ist ja schon lange kein Kapellmeister mehr, und den sie jetzt beängstigend findet.
Gleichzeitig ist Anna S. einschmeichelnd, wenn es darum geht, neue Rollen zu bekommen und derb, wenn sie sich über die Kritiker aufregt: „Diese Baggage! Welche Unverschämtheit! Was kümmern mich eure Konsonanten! Eure verinnerlichten Innereien! Die sauren Kutteln eurer kleinen schwäbischen Seelen!“
Und besonders freundlich kommt es nicht rüber, wenn sie dem Herrn Obrist ins Ohr schreit: „Mein Lebenszweck ist Borstenvieh und Schweinespeck“. Ganz bei sich ist sie allein und mit Fritz Kreislers „Liebesleid“ auf ihrem Bett. Die Schauspielerin Manuela Koschwitz hat sie zur Barcarole dorthin begleitet, Texte von Nietzsche, Lukian und Stendhal über Eifersucht rezitierend. Der Gesang und die Musik in der Inszenierung wird zum Ende hin zunehmend abgelöst von gesprochenen Monologen.
Für die Inszenierung wurden Texte von Johann Wolfgang Goethe, Bert Bresgen, Friedrich Nietzsche, La Rochefoucauld, Fjodor Dostojewski, Lukian und Else Lasker-Schüler zusammengestellt. Texte zu den Themen Schadenfreude, Eifersucht, Zorn, Leidenschaft.
Anna S., jetzt in einem roten langen Kleid macht sich auf, sich über die Carmen-Kritiken zu ärgern. Sie betritt die Bühne und wird erschossen. Mit zwei Schüssen aus einer sieben-schüssigen echten Browning-Pistole, abgefeuert von Dr. Aloys Obrist um 11.15 Uhr. In ihrem wirklichen Leben wird Anna S. in ihrem Schlafzimmer erschossen, im Schrank versteckt ihr aktueller Liebhaber, der 27 Jahre alte Albin Swoboda Junior.
Während sie nun auf der Bühne tot auf einen Stuhl niedersinkt, kommt die Stunde des Herrn Obrist. Der glühende Wagner-Verehrer, Kapellmeister in Weimar, verheiratet mit einer um zehn Jahre älteren Frau, einer Opernsängerin, dem nichts wichtiger ist, als Anna S. zu heiraten, sagt über seine Ehe: „Ein singendes oder theaterspielendes Eheweib hat etwas obszönes, unnatürliches“. Er war es, der Wagner nach Stuttgart brachte, der sich von Anna S. „emporgehoben und hinabgezogen in die Finsternis“ fühlte. Und der es nicht ertragen konnte, als es zu Ende war. „Will nicht alle Lust Ewigkeit?“ Und: „Mein Weg führte mich bis ganz nach unten, bis zur tiefsten Demütigung, ich wurde Musikredakteur beim Schwäbischen Merkur“. „Ruhe fand ich erst, als ich mir sechs Tage frei zur Ansicht einen Revolver bestellte“. Und dann sang Anna S. ihre Carmen-Arie. Hier kommt nun meine kleine Kritik: Ich fand es sehr bedauerlich und unschön, dass sich Anna S. währenddessen wie Nosferatu bewegen musste. Mit den restlichen fünf Patronen schoss sich Aloys Obrist in den Kopf (auf der Bühne) und ins Herz (im wirklichen Leben). Kaum vorstellbar, aber es ist ja die Welt der Oper.
Im Publikum herrschte Unsicherheit, ob nach den einzelnen Gesangsnummern geklatscht werden kann und/oder soll. Es war wie Oper in der Oper, einerseits wollte man die gesanglichen Leistungen würdigen, andererseits die Inszenierung nicht stören. Und so gab es mal Szenenapplaus und mal nicht.
Ein anregender Abend mit sehr guten Schauspielern und Musikern, einer hervorragenden Dzuna Kalnina und einem volltönenden Thomas Peter. Die Maske besorgte Viviana Villalobos, für die Skulptur zuständig war Yasuaki Kitagawa, für die Technik Dirk Keller. Die Regieassistenz lag bei Eva Höckendorff.
Fotos @ Wolfgang Fuhrmannek
Angelika Matthäus, 14.12.2019
Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN