Streaming-Premiere: 23.05.2021
Sesamstraße trifft auf die harte Realität
Nachdem am Musiktheater im Revier derzeit nach wie vor nicht gespielt werden kann, entschied man sich dazu, das Musical „Avenue Q“ als vollwertige Produktion im Stream anzubieten. Die Tickets für zwei unterhaltsame Stunden kosten 15 Euro, ermäßigt 10 Euro sowie als Unterstützerticket 25 Euro. Doch Vorsicht, auch wenn die Puppen, die den besonderen Charme dieser Produktion ausmachen, sehr niedlich aussehen, sollten die Kinder rechtzeitig vor Beginn des Streams im Bett verschwunden sein. Die Avenue Q befindet sich am Rande von Manhattan, symbolisch für die Bewohner, die ebenfalls eher am Rande der Gesellschaft zu finden sind. Und doch stehen sie alle mitten im Leben mit ihren zahlreichen Problemen. Sei es die drohende Arbeitslosigkeit nach dem erfolgreichen Schulabschluss, die Angst vor dem Coming-Out als Homosexueller oder die Verzweiflung einer netten jungen Dame darüber, niemals den passenden Mann fürs Leben zu finden. Angelehnt an die Sesamstraße sind die Bewohner der Avenue Q weitestgehend Puppen, wie z. B. die Kindergärtnerin Kate Monster, die von Ihrer Monsterschule träumt oder Princeton, der frisch von der Highschool nach der Bestimmung seines Lebens sucht. Die Wohngemeinschaft aus Nicky und Rod erinnert sicher nicht ohne Absicht an die allseits bekannten Ernie und Bert und Trekkie Monster (nicht verwandt oder verschwägert mit Kate) konsumiert statt Kekse lieber andere Dinge im Überfluss. Aber auch Brian und seine zukünftige Gattin Christmas Eve, eine Therapeutin mit japanischem Migrationshintergrund bewohnen als „echte Menschen“ das Haus in der Avenue. Und dann wohnt hier auch noch Macaulay Culkinn, einst ein Kinderstar in „Kevin allein zu Haus“, inzwischen aber nach mehreren persönlichen Problemen fast vergessen. In der Avenue Q arbeite er nun als Hausmeister, um sein Geld zu verdienen.
Robert Lopez und Jeff Marx (Musik und Gesangstexte) schufen mit diesem Musical ein durchaus unterhaltsames Werk zu dem Jeff Whitty das Buch beisteuerte. Hierbei bewegt man sich bewusst an der Grenze des politisch korrekten und stellt die Fragen nach Rassismus, Obdachlosigkeit, Homosexualität und dem Konsum von Pornos im Internet entsprechend provokant, so dass einige Szene durchaus auch mal etwas heftiger ausfallen. Auch die ein oder andere sexuelle Handlung der Puppen mag einige Zuschauer vielleicht verstören, dennoch ist dies durchaus ein passendes stilistisches Element in diesem Musical, welches die niedlichen Figuren mit den eben erwähnten Themen konfrontiert. Die Botschaft, wie man trotz aller Widrigkeiten, dass Beste aus seinem Leben machen kann, ist vielleicht etwas übertrieben dargestellt, passt aber dennoch gut in die heutige Zeit. Die Musik ist angelehnt an die großen Broadway-Stücke, verknüpft mit einem typischen Sound, der an bekannte Puppenserien erinnert. Das geht gut ins Ohr, bleibt aber wenig hängen. Doch dies ist keinesfalls schlimm, zielt die Musik auch oft auf eine eigene Komik ab, die sich eben genau aus der Verbindung der großen Broadway-Nummer mit einem unerwarteten Text ergibt. So wird dem Zuschauer beispielsweise in bester Sesamstraßen-Erklär-Mentalität vorgetragen, wie sehr der tägliche Rassismus in jedem von uns steckt. Gespielt wird am MiR die gelungene deutsche Übersetzung von Dominik Flaschka (Dialoge) und Roman Riklin (Songtexte).
Die Band unter der musikalischen Leitung von Heribert Feckler spielt durchaus schwungvoll, soweit man dies am Fernseher beurteilen kann. Das Highlight der Produktion sind aber die hervorragenden Darsteller. Ihnen gelingt es wunderbar, trotz angewandter Puppenstimmen in wechselnden Rollen, passend zu singen, alle Töne zu treffen und die Puppen somit wahrlich mit Leben zu füllen. Besonders viel Arbeit haben an diesem Abend Nicolai Schwab als Princeton und Rod sowie Charlotte Katzer als Kate Monster und Lucy die Schlampe. Als weitere Puppenspieler kommen Gloria Iberl-Thieme, Marharyta Pshenitsyna, Daniel Jeroma und Seth Tietze hinzu. Als menschliche Bewohner in der Avenue Q wissen auch Sebastian Schiller als Brian, Lanie Sumalinog als seine Verlobte Christmas Eve und Merten Schroedter als Hausmeister Culkin zu gefallen. Die Regie von Carsten Kirchmeier konzentriert sich bewusst auf die Darstellung der Bewohner aus der Avenue Q und lässt die Puppen sehr schön mit den realen Personen verschmelzen. Auch Macaulay Culkin für die Rolle des Hausmeisters auszuwählen, ist eine gute Idee. In bisherigen Produktionen war diese Rolle immer anders „besetzt“. Für die Ausstattung konnte Beata Kornatowska gewonnen werden, die auf der Bühne eine schmuddelige NewYorker Straße zeigt. Im Mittelpunkt steht hierbei das zentrale Wohnhaus, welches geschickt neue Räume öffnet. Die Puppen, die u. a. bereits bei den Produktionen in München, Hildesheim und Landshut verwendet wurden stammen von Birger Laube.
Sicherlich ist „Avenue Q“ nun kein großer Meilenstein des Musiktheaters, dennoch ist dieses Musical absolut sehenswert und gewann sicher nicht grundlos den Tony Award als bestes Musical im Jahr 2004. Von 2003 bis 2009 lief das Stück erfolgreich am New Yorker Broadway. Auch wenn es in Gelsenkirchen nun zwar nicht live zu sehen ist, so kann man sich immerhin am morgigen Sonntag (30.05.21) und eine Woche später (06.06.21) jeweils um 19.30 Uhr im Stream anschauen.