Gelsenkirchen: „Die Perlenfischer“

Premiere: 22.12.2018

Glückfall einer Aufführung

„Da muß man weinen, weil‘s gar so schön ist.“ Diese „Rosenkavalier“-Worte könnte man guten Gewissens auf Bizets „Perlenfischer“ anwenden. Die musikalischen Einfälle des erst 25jährigen Komponisten überschwemmen einen, sind überreich, schwelgerisch und ganz einfach rührend, nicht nur bei Hit-Nummern wie „Au fond du temple saint“. Die Rezeption der Oper lief freilich nur schwer an. Ihre Uraufführung 1863 am Pariser Théatre-Lyrique wurde – vom Lob eines Hector Berlioz abgesehen – zurückhaltend bzw. ablehnend aufgenommen. Nach nur wenigen Aufführungen verschwand das Werk in der Versenkung; erst eine Produktion an der Mailänder Scala 1886 sorgte für neuen Auftrieb, auch wieder in Paris. Im heutigen Spielplan taucht das Werk mittlerweise recht häufig auf. Für das gegenwärtige Jahrhundert sind weltweit rund sechzig Produktionen nachweisbar, die letzte soeben in Antwerpen. Die Präsenz der Oper auf Tonträgern könnte sogar von einem Erfolgswerk sprechen lassen, wenn auch viele Einspielungen derzeit nicht greifbar sind. Die Entscheidung des MiR-Intendanten Michael Schultz für die „Perlenfischer“ ist dennoch ausdrücklich zu preisen. Der Erfolg beim Premierenpublikum war, um dies sogleich mit Freude zu sagen, ein außerordentlich enthusiastischer.

Gelsenkirchens Aufführung sollte auch deswegen breitenwirkend wahrgenommen werden, weil sie sich als erste auf die 2015 erschienene Neuedition beim Bärenreiter-Verlag stützt. Auch diese vermag zwar nicht die verschollene Originalpartitur zu rekonstruieren, wohl aber das musikalisch-dramaturgische Korsett des Werkes zu sichern. Alleine das Finale war ja häufigen Änderungen unterworfen. Mal stirbt Zurga auf dem Scheiterhaufen, mal nimmt er sich das Leben wie mitunter Leila auch. Benjamin Godard erweiterte das Schlußduett Leila/Nadir zu einem hymnischen Terzett mit Zurga, für sich genommen fraglos eine effektvolle Nummer, welche jedoch die Dreiecksgeschichte leicht banalisiert. Die Version in Gelsenkirchen überzeugt. Der verzeihende Zurga bleibt verzweifelt zurück, während aus der Ferne die Stimmen von Leila und Nadir das „Leitmotiv“ aus dem Duett des ersten Aktes erklingen lassen. Bei „Au fond du temple saint“ fallen Änderungen in der revidierten Opernfassung übrigens als erstes auf. Es gibt keine „Reprise“ des Beginns, sondern einen neuen Schluß; das Duett Leila/Nadir wird mit einem kurz vor der Uraufführung verworfenen Finalteil abgeschlossen. Die Ohren des Zuschauers müssen sich bei alledem nicht übermäßig umstellen, aber die Alternativen zu den bislang gebotenen Fassungen der Oper sind im Sinne von Authentizität doch aufschlußreich und belangvoll.

Der erweiterte Chor des MiR ist von Alexander Eberle) exzellent vorbereitet, und die Neue Philharmonie Westfalen vollbringt unter Giuliano Betta eine ähnlich fulminante Leistung wie kürzlich unter Rasmus Baumann bei Humperdincks „Königskindern“ (wo leider nur die Inszenierung mißglückte). Unter Betta finden Ausdruck, Klang, dramatischer Drive und Piano-Feinschliff zu einer wirkungsvollen Einheit, welche ganz einfach beglückend ist.

EinsA die Sänger-Equipe. Dongmin Lee gibt der Leila geradezu zärtliche Umrisse und lyrisches Flair. Daß hier und da ein Mehr an vokaler Power vorteilhaft wäre, sei nur am Rande erwähnt. Die Stimme von Piotr Prochera hingegen hat an baritonaler Fülle und Volumen enorm gewonnen. Eine gewisse Rauheit gilt es hinzunehmen, aber zum Charakter Zurgas paßt das nicht schlecht. Der Belgier Stefan Cifolelli wartet als Nadir mit einem zunächst etwas schmal wirkenden Tenor auf. Aber die der kantable Fluß seines Singens und die sichere Höhe (decrescendiertes hohes C in der Romanze) führen zu einem überzeugenden Porträt. Der Nourabad von Michael Heine, neu im MiR-Ensemble, besitzt Autorität.

Daß Anmerkungen zur Inszenierung erst jetzt erfolgen bedeutet nicht, daß es zu ihr nichts zu sagen gäbe. Im Gegenteil: dem jungen Manuel Schmitt gelingt etwas ganz und gar Außerordentliches, nämlich die szenische Übersetzung einer doch ziemlich fern gerückten Opernstory in eine verbindliche Gegenwart, ohne intellektuelle Mätzchen, wie an NRW-Theatern in letzter Zweit mehrfach erlebt (die „Königskinder“ am MiR gehören leider dazu). Daß die brisanten „Perlenfischer“-Aufführungen in Antwerpen (Szene: ein Altersheim) und im Theater an der Wien 2014 (TV-Show) gut benotet wurde, spricht für den Radius szenischer Deutungen. Bezüglich Manuel Schmitt in Gelsenkirchen darf indes eine besondere Sympathie ausgesprochen werden. In einem Radio-Vorbericht hatte er darauf aufmerksam gemacht, daß der Titel der Oper nicht auf eine(n) der Protagonisten abhebt, sondern ein Kollektiv benennt. Das Tauchen nach Muscheln bzw. ihren Perlen ist ein harter, nicht selten tödlich endender Job, welcher bei den ohnehin stark jenseitsgläubigen fernöstlichen Völkern religiöse Rituale als Bitte um Hilfe (auch vor Wetterunbilden) hat entstehen lassen. In der Oper personifiziert sich das in einer reinen Jungfrau, eine Art heiliger Maria, welche der fleischlichen Liebe abzuschwören hat, um ihrem Schutzauftrag nachkommen zu können. Daß sich Leila (Herkunft unbekannt) nicht ganz ohne Widerstand in diese Rolle fügt, deutet die Regie sogleich an. Ob dies in der Figur einer kindlichen Leila (die später Zurga auch seine Halskette, Dank für einstige Rettung, zurückgibt) eine ideale Ausprägung findet, kann man freilich ein wenig anzweifeln.

Doch zurück zum Kollektiv der Perlenfischer. Zu Beginn der Aufführung sieht man hinter einem mehrfach geteilten Plastikvorhang einen Taucher vom Bühnenhimmel herab gleiten, welcher zum Schluß wieder nach oben schwebt. Das ist ein fast schon magisches Bild, welches aber auch die Gefährlichkeit des Perlensuchens dringlich visualisiert. Die folgende Chorintroduktion mündet in einen Protest der Frauen, welcher durch Polizeieinsatz beendet wird. Die Leiche eines Perlentauchers wird in ein Tuch gewickelt und weggetragen. Bei Zurgas Arie im dritten Akt findet im Hintergrund der beweglichen Häuserlandschaft von Bernhard Siegl (Kostüme: sophie reble) schemenhaft eine Lohnauszahlung statt. Zwischen den Bildwechseln werden auf den Plastikvorhang filmische Statements von Müttern gezeigt, welche den Verlust ihrer Söhne beklagen. Das ist als Verweis auf Gegenwärtiges bewegend und tut der Oper doch keine Gewalt an.

Von der plausiblen Personenführung wenigstens ein Detail. Wenn Nourabad, der Dorfälteste, Leila in ihr Amt einführt, wird er leicht übergriffig. Auch ein leidendes Volk hat also seine Teufel. Etwas neckisch mag man Schmitts Einfall empfinden, die Jetztzeit der Handlung dadurch zu unterstreichen, daß Nadir mit Smartphone und blitzendem Fotoapparat hantiert. Doch sei’s. Die eminent glückliche Produktion der Gelsenkirchener „Perlenfischer“ beweist, daß auch mit leicht vergilbten Stoffen durchaus respektabel umgegangen werden kann, ohne sich eine vergegenwärtigende Interpretation zu versagen. Nachhaltiges Lob!

(c) Karl & Monika Foster

Christoph Zimmermann (23.12.2018)

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