Gelsenkirchen: „Königskinder“, Engelbert Humperdinck

Besuchte Aufführung: 29.11.2018

Tragödie in der U-Bahn-Station

Zu dem von Engelbert Humperdinck favorisierten Typus der Märchenoper gehören auch die „Königskinder“, doch die Naivität von „Hänsel und Gretel“ hat das Werk hinter sich gelassen. Eine Abhängigkeit des Komponisten von der Tonsprache Wagners bleibt unverkennbar, aber darüber hinaus eignet der Musik ein schmerzhaft trauriger Ausdruck von besonderer Prägekraft, welche die „Königskinder“ zu einem psychologisch vielschichtigen Musikdrama aufwertet. Diese individuelle Qualität scheint in jüngerer Zeit neu (an)erkannt zu werden, denn das zunächst als Melodram konzipierte, dann auskomponierte Werk (UA 1910 an der Met) wurde in den vergangenen Jahrzehnten an diversen Theatern gespielt, auch an kleineren Bühnen wie Hagen und Hildesheim. Die Produktion 2007 in Zürich (mit Jonas Kaufmann) ist auf DVD greifbar, die von 2012 in Frankfurt (mit Daniel Behle) auf CD. Eine ganz frühe Einspielung des Werkes stammt aus dem Archiv des Westdeutschen Rundfunks (1952). Dem Dirigenten Richard Kraus stand ein erlesenes Ensemble zur Verfügung: Käthe Möller-Siepermann, Peter Anders und Dietrich Fischer-Dieskau.

Nun sind die „Königskinder“ am Musiktheater im Revier (MiR) zu sehen. Bald werden Bizets „Perlenfischer“ folgen, und zum Abschluß der Saison kommt Weinbergers „Schwanda“ heraus. Ein raritätenpraller Spielplan also, welcher höchstes Lob verdient. Aber einer guten Absicht sollte eine gelungene oder wenigstens diskutable Bühnenproduktion folgen. Dies ist in Gelsenkirchen nur bedingt der Fall. Mehr als nur diskutabel, nämlich absolut spitzenrangig ist freilich, was Rasmus Baumann mit der Neuen Philharmonie Westfalen bietet: eine ungemein klangsatte, dabei delikat differenzierende Wiedergabe. Top auch das Sängerensemble, welches zudem engagiert umsetzt, was ihm die Regie aufoktroyiert.

Es darf nämlich angezweifelt werden, daß die inszenatorischen Ideen von Tobias Ribitzki auf volle Akzeptanz gestoßen sind. Der junge Regisseur studierte in Bochum, war in unterschiedlichen Positionen in Linz, Hannover und Berlin (Komische Oper) engagiert. Über seine konzeptionellen Absichten zu den „Königskindern“ verlautet, so weit zu sehen, nichts. Allerdings ist in der Theaterzeitung zu lesen, daß das MiR einem kulturellen Netzwerk beigetreten hat, welches sich – in Anlehnung an eine vergleichbare Berliner Gruppierung – „Die Vielen – NRW“ nennt und gegen rechtspopulistische Anfeindungen zu Felde zieht. Ob das Thema der „Königskinder“ (Vernichtung von Jugendidealen durch Erwachsenensaturiertheit) dieser Initiative wirklich konkret zuarbeitet, ist indes fraglich. Deutlich wird freilich, daß Ribitzkis Inszenierung eine Generationenkluft aufzeigen möchte. Aber welche Mittel wendet er an?

Als erstes blickt der Zuschauer ernüchtert auf eine nüchterne, gleichbleibende Bühne (Kathrin-Susann Brose), die eine Art Untergrundstation sein könnte, in einer Bauhaus-Architektur, welche jedwede Märchenhaftigkeit von sich weist. Aber im Libretto ist doch von Hexe, Wald und Gänsen die Rede. Macht nix. Ribitzki zeigt Videos mit wehenden Blättern und läßt den Spielmann vorzeitig wie einen Rattenfänger von Hameln samt Kindergefolge auftreten. Dieser stellt seine große Tasche neben einer Bank ab, wo sich unsichtbar eine Versenkung mit „Inhalt“ befindet. Mal lugt ein Gänslein hervor, später entsteigt ihr eine Frau, welche aber weder als Hexe noch als Großmutter der Gänsemagd anzusehen ist. Wenn sie ihren Kittel ablegt (Übergang zum 2. Akt), wird sie in aufreizendem Kleid zur erotisch anmachenden Wirtstochter. Das Programmheft weist ihr in der Inszenierung eine „zweite Schlüsselfigur“ neben dem Spielmann zu und sieht bei der Gänsemagd das „Heranreifen zur charakterstarken Frau“.

So verkrampft wie diese Behauptung ist weitgehend auch die Inszenierung. Wie bereits zugestanden, wird eine Konfliktsituation zwischen Erwachsenen und Kindern durchaus deutlich, aber die ist ja bereits unmißverständlich in der Oper angelegt, also nicht zu negieren. Doch die herumlaufenden Choristen wirken als Vertreter von scheuklappiger Geschäftigkeit und Gefühlsarmut einigermaßen penetrant, und das Volkstreiben im Mittelakt scheint lediglich beiläufig arrangiert. Daß der Spielmann auch die Partie des Ratsältesten übernimmt, ergibt keinen Sinn und muß wohl mehr als ein Akt von Besetzungsersparnis gedeutet werden. Dies gilt auch für den Auftritt der vermummten Gänsemagd als des Besenbinders Töchterlein. Dessen Soli am Ende des 2. Und 3. Aktes werden allerdings von einem Mädchen aus dem Kinderchor Der Dortmunder Chorakademie Dortmund übernommen, leider ziemlich krähstimmig. Bedauerlich die Entscheidung eines massiven Striches in der Musik vor Spielmanns letztem Gesang.

Ist denn so gar kein gutes Haar an der Regie von Tobias Ribitzki zu lassen? Ja doch: die Begegnung von Gänsemagd und Königssohn, ihre aufkeimende und später todesbereite Liebe besitzt durchaus Dringlichkeit, geht aber im Nirwana der Aufführung letztlich unter. Daß die Gänsemagd alleine auf einer Bank stirbt (von oben kommt etwas Schnee), während der Königssohn auf einer anderen sitzend am Leben bleibt und nur dumpf vor sich hin starrt, kann man als Bild akzeptabel finden; stücklogisch ist es nicht.

Die Oper beeindruckt durch ihre oft wirklich zu Herzen gehende Musik, besitzt im Libretto von Ernst Rosmer (d.i. Elsa Bernstein) allerdings ein schwerfälliges Libretto. Seine Wortwahl wirkt konstruiert und poetisch maßlos verstiegen (z.B. „Mir flammt es, dich heimzuführen“). Und wenn dem Zuschauer diese verbalen Drechseleien per Übertitel auch noch unübersehbar vor Augen geführt werden, wird die Diskrepanz zwischen Stück und seiner Umsetzung am MiR noch eklatanter. Es kann natürlich keine Lösung sein, die Oper märchenhaft naiv darzubieten, aber die kalte Nüchternheit der Gelsenkirchener Inszenierung macht frieren.

Lob zum Schluß wenigstens noch für die Gesangssolisten. Bele Kumberger (sie trägt ein Kleid, welches offenbar aus einer Karstadt-Boutique stammt) jubiliert mit ihrem hellen Sopran, dem auch Tränen innewohnen, Martin Homrich gibt den Königssohn mit potentem Tenor, welchem eine gute Mischung aus lyrischen und heldischen Farben eigen ist. Ensemble-Neuzugang PETRO OSTAPENKO, ein zuletzt in Nürnberg engagierter Ukrainer, gibt den Spielmann mit standfestem Bariton und sympathischer Darstellung. Almuth Herbst punktet mit ihrem üppigen Mezzo bei Hexe/Wirtstochter. Gut besetzt auch der Holzhacker (Urban Malmberg), Besenbinder (Tobias Glagau) und John Lim aus dem Jungen Ensemble des Hauses als Wirt.

Christoph Zimmermann (30.11.2018)

Bilder siehe unten Premierenbesprechung!