Gelsenkirchen: „Mass“, Leonard Bernstein

Premiere am 7.10.2018

Ein Theaterstück für Sänger, Tänzer und Musiker

Texte nach der Liturgie der Römischen Messe

Weitere Texte von Stephen Schwartz und Leonard Bernstein

UA 1971

In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Anlässlich des 100. Geburtstages von Lenny Bernstein wagt sich das MiR an ein Mammut-Werk, welches mit bald 200 Beteiligten fast das ganze Haus beschäftigt. Uraufführung war zur Eröffnung des Kennedy-Centers 1971 in Washington, das den Namen des ersten katholischen Präsidenten der USA trägt. Ein Auftragswerk der damaligen Gattin des US-Präsidenten Jaqueline. Das Stück basiert auf der lateinischen Liturgie von 1962 der römisch-katholischen Kirche, die zur Zeit des Kompositionsauftrags in Gebrauch war. Ein sperriges Stück, welches mit fast zwei Stunden Spieldauer eigentlich zu lang fürs normale Opernvolk ist.

Bernstein schrieb Mass in einem Lebensstadium existenzieller Verunsicherung. In den 1960er Jahren hatte er mit den Helden des gesellschaftlichen Aufbruchs in den USA sympathisiert, mit Pop-Musikern, Hippie-Philosophen und Gesellschaftskritikern, also mit der sogenannten Woodstock-Generation.

Das Stück ist eine Art Gottesdienst, bei dem schließlich manches außer Kontrolle gerät. Ein Celebrant versammelt seine Gemeinde um sich – die „Street People“ – und man feiert eine katholische Messe. Unterbrochen wird diese durch tiefe Lebens- und Glaubenskrisen des Priesters und diverser Gemeindemitglieder. Der „Celebrant“ – ganz außerordentlich wie schon in Jesus Christ Superstar wieder Henrik Wagner – könnte durchaus ein Alter Ego Bernsteins symbolisieren.

Die Uraufführung (1971) fand nach der gemäß dem Beschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils durchgeführten Liturgiereform statt. Das lähmt natürlich jeglichen Fluß und verlangt eigentlich in der heutigen Zeit nach einem begnadeten Regie-Konzept. Da ist der amerikanische Tänzer und Choreograph Richard Siegal, der bisher in Zusammenarbeit mit Künstlern unterschiedlichster Disziplinen, dem zeitgenössischen Tanz ein neues Gesicht zu geben versuchte, ein guter Mann.

Das Opus beinhaltet außerdem weitere Texte Bernsteins und des Broadway-Komponisten Stephen Schwartz. Der Musikstil ändert sich ständig, und es kommen viele Stile des 20. Jahrhunderts vor: Jazz, Blues, Rock, Broadwaystil, Expressionismus und Zwölftontechnik. Etwas zuviel des Guten und in meinen Ohren etwas zu wenig an schönen Melodien – aber da sind unsere Ohren natürlich durch die West Side Story verdorben.

Immerhin war Mass aus der damaligen Sicht des Komponisten eine Abrechnung mit falschen Glaubensritualen und Denkweisen, die gerade in Amerikas Establishment hoch im Kurs standen, schließlich aber durch die gesellschaftliche Realität Lügen gestraft wurden – verlogene Scheinheiligkeit, die auch Bernstein nur sehr schwach desavouierte. Daß ein Knabensopran ein musikalisch geradezu kitschiges Finale der Lobpreisung Gottes („Lauda Lauda Laudé“) initiiert, irritiert. Man fragt sich, ob Bernstein wirklich daran geglaubt hat. Da war z.B. Jimi Hendrix‘ National Antem in Woodstock 1969 schon ein erheblich markanteres musikalisches Signum an amerikanischer Gesellschaftskritik.

Ob man solche oratorienhaften Mammutwerke – die szenischen Aufführungen der letzten Jahrzehnte lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen – den Riesenaufwand noch wert sind, sollte jeder Besucher für sich entscheiden. Warum man die immerhin vorliegende deutsche Version von Marcel Prawy (Wien 1981) nicht verwendete, ist diskussionswürdig. Immerhin agieren alle Mitwirkenden mit Microports, und so hätte man sich das dadurch erzwungene permanente Starren des Publikums auf die Obertitel im Sinne einer besseren künstlerischen Wahrnehmung des 360 Grad Bühnengeschehens durchaus ersparen können.

Ähnlich wie bei den in den jüngster Zeit im Umfeld aufgeführten Großwerken – pars pro toto Die Soldaten von Zimmermann und Floß der Medusa von Henze – stellt man sich die Frage, ob die gigantischen künstlerischen Einsatzkräfte und die divergierenden Kraftaufwendungen – alle geben viel, viele geben alles – diesen Aufwand lohnen, vor allem, wenn das Ganze noch relativ unpolitisch daherkommt.

Trotzdem ist das Ganze eine Leistungsschau des großartigen MiR, ein Beweis für seine große und weiter wichtige Bedeutung in der NRW-Theaterlandschaft und eine durchaus respektable Begründung für die vielen Millionen, die so ein Musiktheater-Tempel verschlingt. Es zeigt auch, daß eben dieses Musiktheater im Revier neben der aktuellen programmatischen Ödnis und Konkurrenz der großen Nachbarhäuser weiterhin grandios seinen Mann steht.

Ein Abend im MiR ist daher immer – auch wenn der Kritiker etwas nörgelt – ein besonderes Ereignis, welches von allen Künstlern erkennbar mit Herz und Seele getragen und verwirklicht wird. Chor, Ballett, Orchester, Band und die Heerschar von Solisten, teilweise im Ensemble agierend, wurden zu Recht über den sprichwörtlichen grünen Klee am Ende gefeiert. Ob das Abonnement und die Theatergemeinden ähnlich jubilieren, wird sich zeigen.

Peter Bilsing 7.10.2018

Bilder (c) MiR / Karl Forster

Credits

Musikalische Leitung: Rasmus Baumann

Inszenierung und Choreografie: Richard Siegal

Bühne und Licht: Stefan Mayer

Kostüme: Richard Siegal

Chor: Alexander Eberle

Dramaturgie: Stephan Steinmetz

Knabenchor der Chorakademie Dortmund – Einstudierung / Jost Salm

Ton: Marco Brinkmann

Mitarbeit Kostüm: Andreas Meyer / Sylvia Tschech

Celebrant – Henrik Wager

Street Chorus: Bele Kumberger, Dongmin Lee, Christa Platzer, Petra Schmidt, Shixuan Wei, Almuth Herbst, Lina Hoffmann, Boshana Milkov, Noriko Ogawa-Yatake, Anke Sieloff, Tobias Glagau, Khanyiso Gwenxane, Martin Homrich, Jiyuan Qiu, Michael Heine, John Lim, Joachim G. Maaß, Urban Malmberg, Petro Ostapenko, Piotr Prochera, Sebastian Schiller, Paul Calderone, Ruud van Overdijk

Tänzerinnen und Tänzer: Francesca Berruto, Sarah-Lee Chapman, Hitomi Kuhara, Lucia Solari, Tessa Vanheusden, Bridgett Zehr, Sara Zinna, Paul Calderone, Carlos Contreras, Valentin Juteau, Mason Manning, Louiz Rodrigues, Ledian Soto, José Urrutia

Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund / Jonas Finkemeye

Weitere Termine:

11. OKT. 2018

14. OKT. 2018

02. NOV. 2018

04. NOV. 2018

10. NOV. 2018

13. JAN. 2019

20. JAN. 2019

16. FEB. 2019